7 Die Protagonistin in ihrem sozialen und politischen Umfeld

Die Protagonistinnen der untersuchten Utopien sind weit davon entfernt, ständig mit der Analyse der dystopischen Situation und Maß­nahmen zu deren Überwindung beschäftigt zu sein, wenngleich dies einen wichtigen Bestandteil ihrer Identität ausmacht. So hilft beispielsweise auch die fundierteste Kritik an den Männern der Li­nien den Frauen in Native Tongue kaum dabei, alltägliche Konflikte mit ihnen zu bewältigen; hier sind individuelle, flexible Lösungen und Strategien gefragt. Ebenso mag die Vision der utopischen Ge­sellschaft vielfältige Träume vom gleichberechtigten und solidari­schen Umgang bereithalten, dennoch ist die Protagonistin darauf angewiesen, im Hier und Jetzt Bündnispartnerinnen, eventuell auch -partner und Freundinnen zu finden.

Das vorliegende Kapitel beginnt mit der Darstellung der Kommuni­kation sowohl zwischen den Frauen als auch mit den Vertretern des dysto­pischen Systems. Anschließend werden weitere Aspekte des sozialen und politischen Lebens der Protagonistinnen folgen, denen die uto­pische Vision, sofern vorhanden, gegenübergestellt werden kann. Die Analyse persönlicher Beziehungen der Protagonistin bildet den nächsten Abschnitt. Ein wesentlicher Aspekt des Lebens der Protagonistinnen ist Sexualität, sowohl unter dem Gesichtspunkt aufgezwungener männerorientierter Zwangsheterosexualität als auch hinsichtlich der Analyse eigener Bedürf­nisse und der Entwicklung selbstbestimmter sexueller Aktivi­tät[182].

7.1                  Kommunikation in den utopischen Romanen

In der dystopischen Gesellschaft scheint es den Männern gleichgül­tig zu sein, ob die ihnen gegenübertretende Frau unterle­gen, ebenbürtig oder gar, auf welchem Gebiet auch immer, überlegen ist; stets erwarten sie, der Loyalität der Frauen versichert zu wer­den. Dies läßt Russ in The Female Man auch Jael feststellen, die ei­nem Wachmann an der Grenze zu Manland mehrfach versichern muß: „Of course we’re friends“ (Russ, 1985, S. 169), um überhaupt zu einer vereinbarten Verhandlung eingelassen zu werden. Ähnliche Erfahrungen macht auch Nazareths Mutter Rachel in Native Tongue, als es darum geht, eine Belanglosigkeit von ihrem Ehe­mann zu er­bitten, die ihr eigentlich ohnehin zusteht (vgl. Elgin, 1985, S. 104 ff). Demütigende Situationen müssen von den Frauen schlichtweg ertra­gen werden; die nächstliegende Möglichkeit ist oft abzuwarten, bis die Männer den Spaß daran verlieren:

„Let it pass. Control yourself. Hand them the victory in the Domi­nation Sweepstakes and they usually forget whatever it is they were going to do anyway“ (Russ, 1985, S. 175),

oder in Nazareths Fall:

„She saw no reason to bear any more of it, but she couldn’t move. Her legs wouldn’t obey her. She sat there while they gasped and laughed and presented one another with ever more elaborate de­scriptions of what it must have been like when she ‚accosted‘ Jordan, (…) and she was nothing but a bruise twisted round a core of shame; but she couldn’t move“ (Elgin, 1985, S. 200),

oder wie Laur, eine „jüngere Version“ Joannas, es erlebt:

„I couldn’t talk. I couldn’t move. I felt deathly sick. (…) He ex­pected me to start singing ‚I’m So Glad I’m A Girl‘ right there in his Goddamned office.“ (Russ, 1985, S. 67)

Connies Situation in der Psychiatrie ist bereits jenseits jegli­cher Möglichkeit, sie zum Ziel des Spotts zu machen: alles, was ihr an nega­tiven Äußerungen seitens der herrschenden Männer ent­gegengebracht werden kann, sind Ignoranz und Verachtung (vgl. Piercy, 1977, S. 340). Lösungen für Kommunikationsprobleme bestehen hier häufig im Beharren auf dem Machtgefälle zwischen drinnen und draußen, Arzt und Patientin, Schlüssel Besitzenden und Eingesperr­ten, Mann und Frau (vgl. Piercy, 1977, S. 271 ff). Darüber hinaus werden alle Ansätze der Patienten und Patientinnen, eine funktio­nierende Kommunikationsstruktur aufzubauen, systematisch zerstört:

„Friendship is suspect, touch prohibited; matches, for example, are unavailable, and communication is always blocked by drugs and re­gulations“[183].

Obwohl hochqualifiziert in ihrem Gebiet, wird den Frauen der Li­nien nicht die geringste Kompetenz bezüglich der Bewertung von Sprache zugebilligt (vgl. Elgin, 1988, S. 160), wie auch Cranny-Francis feststellt:

„Elgin’s novel allegorically represents the phallocentricity of language in our own society, the encoding of male experience and masculinity itself as the universal, the normal, the human. The powerlessness of the female linguists signifies the disempowering effect of the exclusion of women from the mechanisms of power validated in language.“[184]

Dies führt ständig zu Mißverständnissen. Nazareth analysiert:

„It is an interesting fact, linguistically, that the most common complaint of Panglish-speaking men toward women in conver­sation was this sharp question: ‚For god’s sake, will you get to the point?'“ (Elgin, 1988, S. 238)

Die Sprache Utopias bietet in Hinblick auf Gleichberechtigung der Menschen ganz andere Möglichkeiten. Dies stellt auch Janet in The Female Man fest, als sie ihren Interviewer dabei ertappt, wie er männli­chen Sprachgebrauch auf whileawayanische Verhältnisse über­tragen will:

„Evason is not ’son‘ but ‚daughter‘. This is your trans­lation“ (Russ, 1985, S. 18).

Ein weiteres Beispiel für unterschiedliche gesellschaftliche Struk­turen, die sich in der Sprache niederschlagen, ist die Verwendung des Begriffs jemanden kennen: während in den USA schon bei einer Partybe­kanntschaft möglich ist, von kennen zu sprechen, setzt ebendies in Whileaway tiefere Beziehungen voraus (vgl. Russ, 1985, S. 39 f).

Piercy geht in Hinblick auf die Umsetzung neuer bzw. er­wünschter gesellschaftlicher Bedingungen in die Sprache zwar nicht so weit wie Elgin, die eigens eine neue Sprache entwickelt, geht aber weit über Russ‘ Konzept kaum reflektierter Fortentwicklung der alten Sprache hinaus, indem sie geschlechtsneutrale Personal­pronomina einführt (vgl. Piercy, 1977, S. 56 ff):

„Piercy emphasizes this elimination of traditional gender roles by her use of the non-specific possessive ‚per‘ in the place of the sex-specific ‚her‘ and ‚his‘; and the noun ‚person‘ instead of the pronouns ’she‘ and ‚he‘. The initial clumsiness of these neologismus is an indication to the reader of the pervasiveness of the gender ideologies which structure our society.“[185]

Über die Abschaffung geschlechtsspezifischer Personalprono­mina hinaus führt Piercy eine Reihe weiterer Veränderungen der Sprache ein: Begriffe aus der Telepathie werden aufgenommen; Wörter, die hierarchi­sche Strukturen beschreiben und damit in der neuen Ge­sellschaft über­flüssig geworden sind, fallen weg oder bekommen neue Bedeutungen; an­dere Begriffe, die die neue Gesellschaft und Politik beschreiben, werden aufgenommen; ein neuer Slang entwickelt sich zur Beschreibung eines veränderten Lebensgefühls[186].

Neue Kommunikationsstrukturen finden sich bei Piercy jedoch nicht nur in der Utopie Mattapoisett, sondern sie werden auch von der Protago­nistin in der Dystopie entwickelt. Connie ist in der Psychiatrie diejenige, die unter­stützt, hilft, die Unterhaltung aufrechterhält und auf andere eingeht (vgl. Piercy, 1977, S. 146/147). Es gelingt Connie, das Verhältnis zu ihrer Freundin und Leidensgenossin Sybil nicht nur zu fördern, sondern sie kann sich darüber hinaus ihre Souveränität und einen eigenen Standpunkt bewahren (vgl. Piercy, 1977, S. 83/85/192 f). Sie ist in der Lage, Unterschiede zu akzeptieren, ohne dabei zu diskrimi­nieren:

„Oh, Sybil was crazy, but Connie had no trouble talking to her“ (Piercy, 1977, S. 84).

Die Psychiatrie stellt für Connie sogar eine Mög­lichkeit dar, freier zu sprechen, als dies draußen möglich gewe­sen wäre, es gibt dort „fewer fences“ (Piercy, 1977, S. 122). In ih­rem Umgang mit Mitpatientinnen und Mitpatienten unterscheidet Connie sich deutlich vom Personal der Psychiatrie, für die sprechen gleichbedeutend mit leben zu sein scheint:

„For months Mrs. Martínez had not spoken. The attendants treated her as a piece of furniture. Many of the withdrawn had their own ways of speaking with­out words to anyone who was open, and Connie never had much trouble figuring out what Mrs. Martínez wanted.“ (Piercy, 1977, S. 82)

Hier leistet die Subkultur der Psychiatriepatientinnen, was die Schulmedizin nicht zu erfüllen in der Lage ist. Analog zur Entwick­lung der zwischenmenschlichen Kommunikation erfährt das gesamte Verhältnis zwischen den Patientinnen und Patienten Fortschritte. Als Connie sich von ihrem Mitpatienten Skip verabschiedet, geschieht dies liebevoll, gleichberechtigt und respektvoll (vgl. Piercy, 1977, S. 285). Connie selber ist in der Psychiatrie sogar in intensivere Kom­munikationsstrukturen eingebunden als bei ihren Besuchen in Mattapoisett. Dort ist Connie ausschließlich in der Position der Fragen­den, der zu Belehrenden und hat keine Chance, eigene Wertvorstel­lungen zu integrieren.

Die Entwicklung der Frauensprache Láadan in Native Tongue und The Judas Rose ist der weitestgehende Entwurf in Hinblick auf einen neuen Umgang mit Sprache. In starker Opposition zur herr­schenden Män­nersprache entwickelt, impliziert die Erfindung des Láadan eine neue Gesellschaftsordnung:

„The male linguists employ a discourse whose inherent philo­sophy is elitist and exclusory and which privileges power, deceit and manipulation. In contrast, Elgin’s language aims to include as many women as possible, and the phonetic choices involved in its con­struction reflect this (…).“[187]

Die Bedeutung des Láadan geht weit über linguistische Ein­zelphänomene hinaus. Deutlich wird dies anhand der von Miriam Rose zi­tierten Bibelstelle, in der die göttliche Handlung, einem Gläubigen das Haupt mit Öl zu salben („Thou anointest my head with oil“), übertragen wird in „Thou braidest my hair with Thine own hands“ (Elgin, 1988, S. 210). Miriam Rose erläutert den Priestern die Än­derung:

„First, it was necessary to render the sense of Our Lord per­forming some act that would be an honor to a human being. (…) A woman would not wish to be anointed with oil. That would be a messy procedure, you see; afterward, she would have to wash her hair, and probably her clothing as well, since drops of oil would inevitably trickle slowly down. … If God were anointing you with oil, even a very small quantity of oil, you could hardly avoid that. It would not be respect­ful, or worshipful, to avoid it.“ (Elgin, 1988, S. 211)

„I would consider it an inexpressible honor if divine hands were to braid my hair. It is an intimate service, and one that demands closeness. (…) The braiding of hair is not something that men do in our world. Or know how to do.“ (Elgin, 1988, S. 212)

Die Notwendigkeit der Frauensprache Láadan leitet sich vor allem aus der Unmöglichkeit her, den Frauen der Linien wichtig erscheinende Sachverhalte im Standard-Panglish auszudrücken, wie Nazareth feststellt:

„There was the word ‚love‘; it was almost impossible in Panglish to say which of the many subtle and different kinds of love was the one you felt toward someone in less than ten minutes.“ (Elgin, 1988, S. 237)

7.2                  Das soziale Umfeld der Protagonistin – ihr privates und öffentliches Leben

Das soziale Leben der Protagonistinnen in der Dystopie ist „male identified“[188]; es ist geprägt von den ausgesprochenen und un­ausgesprochenen Ansprüchen von Männern sowohl im individuellen als auch im öffentlichen Leben. Joanna beschreibt in The Female Man, wie ihr ganzes Leben auf Männer ausgerichtet war, bis Janet von Whileaway kam (vgl. Russ, 1985, S. 29). Am stärksten betroffen ist sicherlich Jael, die in einem permanenten Kriegszustand lebt, der auf die jahrhunderte­lange Unterdrückung von Frauen durch Männer zurückzuführen ist[189]. Während Jael die direktesten Auswir­kungen und Folgen zu tragen hat, ist die Unterdrückung, der Jeannine ausgesetzt ist, zwar subtiler, aber da­durch nicht weniger beklemmend:

„There is some barrier between Jeannnine and real life which can be removed only by a man or by marriage; somehow Jeannine is not in touch with what everybody knows to be real life.“ (Russ, 1985, S. 120)

Jeannine ist über längere Strecken des Buches hinweg un­glücklich und planlos. Sie kann sich nicht entscheiden, was sie will: leben, ster­ben, einen Mann, einen Beruf, bis der Entschluß feststeht: „I want to get married“ (Russ, 1985, S. 126). Am Beispiel Joannas wird deutlich, welche Auswirkungen es hat, wenn eine un­abhängige Identität nur für Männer vorgesehen ist. Als Jugendliche war sie verzweifelt auf der Suche nach irgend etwas

„(…) to tell me self-love was all right, to tell me I could love God and Art and Myself better than anything on earth and still have orgasms“ (Russ, 1985, S. 205).

Geschlechtsspezifisches Verhalten wird als Phänomen zwar auch von Männern in den untersuchten Utopien zur Kenntnis genom­men, diese kom­men jedoch kaum auf die Idee, deshalb an sich selbst zu zweifeln, son­dern erklären lieber die Frauen für minderbemittelt, wie Thomas Chornyak in Native Tongue:

„(…) it made him wonder what in the name of heaven really went on inside their heads.“ (Elgin, 1985, S. 103)

„The women had a sly animal cleverness that served them well (…).“ (Elgin, 1985, S. 102)

„In the poverty of their perceptions, prevented by nature itself from ever having more than a distorted image of reality, women might very well create for themselves a picture that included nothing but the parts of reality they enjoyed looking at.“ (Elgin, 1985, S. 96/97)

Die Bereitschaft der Männer, sich selbst ernstzunehmen und dafür die Wahrnehmungen der Frauen in Frage zu stellen, ist in den unter­suchten Texten ständig präsent. Dies findet insofern Entsprechung im Verhalten von Frauen, als auch diese bereit sind, die Männer ernstzu­nehmen und an sich selbst zu zweifeln. Connie beispielsweise geht in Woman on the Edge of Time selbstverständlich davon aus, daß sie Lucientes Besuch nur halluziniert oder geträumt hat, ihr kommt gar nicht in den Sinn, ihre eigenen Wahrnehmungen ernstzunehmen. Als Luciente schließlich Realität wird, hält Connie diese konsequenterweise für ver­rückt (vgl. Piercy, 1977, S.  31/33/40). Diese Reaktion ist nicht nur auf Connies Erfahrungen mit der Psychiatrie zurückzuführen. Die Erfahrungen, die sie nach ihrer Einweisung macht, sind nur stell­vertretend für die anderer Frauen, die ein „normales“ und vermeint­lich ausgefülltes Leben als Ehefrau und Mutter führen. Als Connie anläßlich eines Besuches bei ihrem Bruder mit dessen Ehefrau und mit ihrer Nichte zusammentrifft, muß sie feststellen:

„We are not three women (…). We are ups and downs and heavy tranks meeting in the all-electric kitchen and bouncing off each other’s opaque sides like shiny pills colliding.“ (Piercy, 1977, S. 359)

Mit solchen Beispielen wird in den Romanen dargestellt, auf wie stark schwankendem Boden Frauen in der von Männern bestimmten Aus­gangsgesellschaft stehen, und wie wenig sie als vereinzelte In­dividuen in der Lage sein können, sich auf etwas unsicheres Neues einzulassen. Dem wird auf einer anderen Ebene des Romans die utopische Gesell­schaft ge­genübergestellt, in der Frauen selbstverständlich nach ih­ren Bedürfnissen und Interessen leben können, ohne daß sie jemals in die Verlegenheit kommen, die Legitimität ihrer Existenz als Frau, Mensch oder Individuum in Frage zu stellen. Beispielhaft sei hier nur die utopische Gesellschaft Whileaways in The Female Man genannt:

„There’s no being out too late in Whileaway, or up too early, or in the wrong part of town, or unescorted. You cannot fall out of the kinship web and become sexual prey for strangers, for there is no prey and there are no strangers – the web is world-wide.“ (Russ, 1985, S. 81)

Elgin verzichtet völlig auf die Darstellung einer utopischen Gesell­schaft als Gegensatz zur dystopischen Gegenwart des Romans. Der Schwerpunkt in der Umsetzung eines wünschenswerteren Zusam­menlebens liegt in der Solidarität und Verantwortlichkeit füreinan­der, die Frauen auch unter schwierigen Bedingungen bereits in der Gegenwart schaffen. Stellvertretend für andere wird in diesem Zu­sammenhang Belle-Charon Adiness Chornyak genannt: „She was most emphatically her sister’s kee­per“ (Elgin, 1988, S. 299). Die älteren Frauen fühlen sich auch keines­wegs dadurch diskriminiert, daß sie Barren House wohnen, im Gegenteil:

„It was such a blessen relief, moving over to Barren House! (…) I agree with you that the name of the place left a lot to be desired – but then, my dear, it was the men who did the naming. It wouldn’t have been at all tactful for the women to ask them to change it to something like ‚Paradise On Earth House‘, would it?“ (Elgin, 1988, S. 119)

Nazareth fühlt sich bei ihrem Umzug ins Barren House nach ihrer Ehe  wie „someone who goes home at last after a lifetime of exile“ (Elgin, 1985, S. 243). Die Bedeutung der Barren Houses nicht nur als Gegengesellschaft, sondern ebenso zur Erschaffung einer Gegenkultur stellt auch Armitt heraus:

„(…) Barren House is the place where the spark of subversion is kindled, and where the seclusion of this community trans­forms isolation into refuge, women coming to value and care for each other as individuals. The importance of language as a power base is no secret to these linguists, and the primary task becomes to craft carefully and lovingly a women’s language that will aim to place their concerns at its cen­tre.“[190]

Alle Gesellschaftsformen, die die Autorinnen der untersuchten Ro­mane entwickelt haben, seien es Russ‘ Whileaway, Piercys Mattapoisett oder Elgins Barren Houses, haben basisdemokratische Strukturen ge­meinsam: je­der Mensch ist genauso wertvoll wie jeder andere, Mei­nungen und Ideen werden ernst genommen, geprüft, diskutiert und vor allem begrüßt. Ins­besondere gelingt es den Bewohnerinnen und Be­wohnern der alternativen Gesellschaften, die in der Ausgangsgesell­schaft gängige starre Trennung von Individuum und Gesellschaft genauso aufzuheben wie die Trennung von Politik und gesellschaft­lichem Leben[191].

7.3                  Persönliche Beziehungen der Protagonistin

Inwieweit das utopische Ideal das soziale Umfeld der Protago­nistin verändern kann und soll, wurde im vorangegangenen Ab­schnitt gezeigt. Nun hat aber speziell die Protagonistin die Aufgabe, diese Veränderungen zu bewirken: es sind nicht nur ihr Beispiel und ihre Strategie, die eine Wende zum Besseren hervorrufen, sondern sie ist darüber hinaus die Person des Romans, an der die Schlüssigkeit des utopischen Entwurfs exemplarisch dargestellt wird. Sie zeigt, wie Beziehungen zwischen Men­schen im Einzelfall strukturiert sein wer­den.

Bei Russ und Piercy liegt der Schwerpunkt der Darstellung ver­änderter Umgangsformen der Protagonistin in deren utopischen Pen­dants; Luciente zeigt, wie Connie unter veränderten Bedingungen sein könnte, und Janet gibt ein Beispiel für die Möglichkeiten und Chan­cen, die Jael, Jeannine oder Joanna haben könnten. Piercys Mattapoisett ist von allen dargestell­ten Alternativen diejenige mit den we­nigsten Konflikten. Luciente lebt in harmonischem Miteinander in ihrer Umwelt, sie wird von dieser ernstge­nommen und gibt die Wert­schätzung, die ihr entgegengebracht wird, be­reitwillig an ihre Mit­menschen zurück. Kooperation und Solidarität kom­men in den Fami­lienstrukturen Mattapoisetts zum Ausdruck:

„Parenting, not pair-bonding, is the basis of these families.“[192]

Familienverbände im Sinne von Blutsverwandtschaft existieren nicht mehr, daher lebt Luciente mit mems zusammen (vgl. Piercy, 1977, S. 57); Menschen, die gemeinsam ein Kind aufziehen, sind comothers, egal, welchen biologischen Ge­schlechts sie sind (vgl. Piercy, 1977, S. 74). Die Sexualmoral hat sich geändert. Besitzansprüche gegenüber Personen sind illegitim, es wird nur von hand friends und pillow friends ge­sprochen (vgl. Piercy, 1977, S. 72). Diese allumfassende Harmonie hat zur Folge, daß Konfliktverhalten in Mattapoisett nicht gelernt wird, zumindest ist dies innerhalb des Romans nicht thematisiert. Luciente ist außerstande, mit ambivalenten Gefühlen um­zugehen. Positive Aspekte von Streit, beispielsweise das Zeigen „negativer“ Gefühle, wie Wut, Aggression oder Verletztheit, stehen in Lucientes Verhaltensrepertoire nicht zur Verfügung. Als Luciente Schwie­rigkeiten damit hat, daß ihr pillow friend Jackrabbit einen anderen pillow friend neben ihr hat, kann sie die sich für sie daraus ergebenden Schwierigkeiten nicht allein mit den betroffenen Personen klären, sondern es muß eine Ergründung, ein worming abgehalten, werden, in dem eine Schiedsrichterin die Aus­einandersetzung leitet (vgl. Piercy, 1977, S. 207 ff).

Connies Persönlichkeit ist dagegen vielschichtiger aufgebaut. Sie setzt sich solidarisch mit anderen Benachteiligten der Gesell­schaft aus­einander, ohne auf ein Übermaß an Harmonie angewiesen zu sein, und hat auf der anderen Seite Strategien entwickelt, die es ihr erlauben, in Streit- und Konfliktsituationen variabel zu reagie­ren: Widerspruch und Protest (vgl. Piercy, 1977, S. 30; 13), Unter­würfigkeit und Gehorsam (vgl. Piercy, 1977, S. 14) oder Einlenken und Nachgeben (vgl. Piercy, 1977, S. 216). Connie entwickelt ihr Konfliktverhalten im Verlauf des Romans. Hier spielt das Verhältnis zu Luciente eine wichtige Rolle: obwohl Connie in dieser Hinsicht kaum direkt von Luciente  lernen kann, ermöglicht ihr die Gesamt­heit der Erfahrungen, die sie in Mattapoisett macht, eine positive individuelle Umsetzung der neu erworbenen Stärke nach eigenen Maß­gaben.

Das Verhältnis zu ihrem ersten Ehemann Martín unterlag noch ei­nem Harmonie-Ideal, das wesentlich zu Lasten Connies verwirklicht wurde. Sie sprach nur, wenn sie gefragt wurde und zensierte ihre eigenen Aussagen, um Martín nicht zu verärgern (vgl. Piercy, 1977, S. 243). Wenngleich in der Connie umgebenden Gesellschaft Gewalt gegen Frauen normal und üblich ist, ist Connie Jahre später nicht mehr bereit, dies unhinterfragt hinzunehmen, wie ein Gespräch mit ihrer Nichte Dolly zeigt:

„How can you care about him with your face still swollen from his beating?“

„‚He is my man,‘ Dolly said, shrugging. ‚What can I do?'“ (Piercy, 1977, S. 24)

Diese Unterhaltung zwischen Connie und Dolly findet statt, bevor Connie Luciente kennenlernt. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft mit Luciente ist sie noch weitaus ergebener Männern gegenüber, als sie es später ist. Zunächst hält sie Luciente wegen deren selbstbewußter Körpersprache für einen Mann und reagiert entsprechend:

„She did not care. Passive. Receptive. Here she was, abandoning herself to the stronger will of one more male. Letting herself be used (…). It could only be bad.“ (Piercy, 1977, S. 52)

Das Verhältnis zwischen den beiden verändert sich schlagar­tig, als Connie feststellt, daß Luciente eine Frau ist: „Connie no longer felt in the least afraid of Luciente“ (Piercy, 1977, S. 67). Sie entwickelt die Fähigkeit, nicht unterwürfig auf Zuwendung zu warten oder diese kläglich zu erbitten, sondern sie fordert. Dabei ist ihr durchaus klar, daß dies Luciente einschränkt:

„Sometimes she pitied Luciente for lighting on her, when what did she know?“ (Piercy, 1977, S. 235).

Auch bei ihrer Flucht aus der Psychiatrie nimmt Connie wie selbstverständlich Lucientes Hilfe in Anspruch (vgl. Piercy, 1977, S. 239 ff).

Die Protagonistinnen in The Female Man strukturieren ihre Sozial­beziehungen völlig unterschiedlich. Als Jael reich geworden ist, kopiert sie die Werte der Männergesellschaft mit umgekehrten Vorzeichen für ihr eigenes Leben. Sie legt sich ein schönes Haus zu und dazu – als devotes Spielzeug – den Androiden Davy, „the most beautiful man in the world“ (Russ, 1985, S. 185, vgl. 184 ff)[193]. Joanna dagegen stürzt sich geradezu begeistert auf die Möglichkeit, Frauenfreundschaften zu entwickeln, die die bisherige ausschließli­che Männerbezogenheit ablösen, als Janet in ihr Leben tritt:

„Then a new interest entered my life. After I called up Janet, out of nothing, or she called up me (don’t read between the lines; there’s nothing there) I began to gain weight, my appetite impro­ved, friends commented on my renewed zest for life, and a nagging scoliosis of the ankle that had tortured me for years simply va­nished overnight.“ (Russ, 1985, S. 29)

Im Gegensatz zu Jael ist Joanna durch die personifizierte Utopie, die Janet darstellt, in der Lage, ihre Prioritäten zu ändern und eine neue Art von Beziehung aufzubauen. Die Freundschaft zwischen Joanna und Janet ist dabei keineswegs konfliktfrei, darin liegt auch nicht ihr Sinn, aber Joanna kann im gesellschaftlichen Mikrokosmos wenigstens ei­ner sozialen Beziehung einen Vorgeschmack auf das Leben in einer gleichberechtigten Gesellschaft erleben. Janet, die diese Veränderung be­merkt, orientirt ihre Sozialbeziehungen zu Hause in Whileaway aus­schließlich an ihren Interessen; gesellschaftliche Zwänge existieren in dieser Hinsicht dort nicht. Sie darf streiten, ohne Sanktionen zu be­fürchten (vgl. Russ, 1985, S. 49), es existieren kaum gesellschaftliche Tabus (vgl. Russ, 1985, S. 52), Kinder gehorchen grundsätzlich nicht (vgl. Russ, 1985, S. 100). Im Rahmen der Sozialbeziehungen Janets sind Streit und Kampf völlig normal, jedoch nur unter Bekannten, nicht mit Fremden, und Duelle werden unter sportlichen Gesichtspunkten gesehen, haben aber durchaus tödlichen Ausgang (vgl. Russ, 1985, S. 2/47/48).

Streit mit ernstzunehmenden, aber nahestehenden Gegnern oder Gegnerinnen ist auch für Jael wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Eine ihrer Richtlinien für Attentäterinnen lautet:

„Pray often. How else can you quarrel with God?“ (Russ, 1985, S. 191).

Nazareth Chornyaks persönliche Beziehungen werden über das in vorangegangenen Kapiteln Beschriebene hinaus nicht explizit the­matisiert. Nazareth hat sicherlich zu einigen ihrer Mitstreiterinnen engere Bezie­hungen als zu anderen, wird jedoch von Elgin kaum für konkrete Beispiele herangezogen. Ihre Funktion ist eher die der großen Strategin, die maß­geblich zur Überwindung der Dystopie bei­trägt und die insofern kaum Muße findet, die neuen Möglichkeiten zu genießen, als ihr Leben der Ar­beit („one shovel at a time“) gewid­met ist (vgl. Elgin, 1988, S. 291). Die veränderten Sozialbeziehungen innerhalb der Subgesellschaft der Frauen werden an den Beispielen anderer Frauen beschrieben. So sind beispiels­weise ständig kleine Mädchen da, die mit den alten Frauen im Barren House sprechen, sich um sie kümmern und mit ihnen Sprachen üben (vgl. Elgin, 1985, S. 207). Die Verwendung des Láadan bewirkt auch insofern eine Veränderung der Beziehungen der kleinen Mädchen der Linien unter­einander, als ihr Verhältnis zueinander näher wird (vgl. Elgin, 1985, S. 267).

Holland-Cunz stellt in Hinblick auf feministische Entwürfe utopi­scher Gesellschaft insgesamt fest, daß die Sozialbeziehungen der Menschen sich verändern, die Freundschaft unter Gleichen löst ge­sellschaftliche Institu­tionen wie Verwandtschaft und Ehe ab, Freundschaften zeigen eine ver­bindliche Kontinuität[194].

7.4                  Sexualität und Erotik

Der Entwurf neuer Orientierungen und Möglichkeiten im Be­reich Sexualität und Erotik in der Utopie stellt eine Kritik an der Liebe dar, wie sie in der heutigen Gesellschaft gelebt wird. In der dystopischen Ausgangsgesellschaft sind Werte, die der Einstellung von Männern zur Liebe zugrundeliegen, solche wie Be­herrschung und Machtlust. Für Frauen dagegen beinhaltet männlich definierte Liebe Un­terwürfigkeit, Mißtrauen und Hinterlist[195].

Nazareth Chornyaks Po­tential von Liebe wird spätestens völlig zerstört, als sie neunzehn Jahre alt ist. Sie lernt Jordan Shannotry kennen, einen anderen Linguisten (vgl. Elgin, 1985, S. 178 ff), verliebt sich in ihn, weil er sehr viel freundlicher und höflicher ist als ihr Ehe­mann (vgl. Elgin, 1985, S. 192 ff), und gesteht ihm ihre Liebe (vgl. Elgin, 1985, S. 194). Dies teilt er sogleich Nazareths Vater mit (vgl. Elgin, 1985, S. 196), der, gemeinsam mit ihrem Ehemann, sie heftig verspottet und ernst verwarnt (vgl. Elgin, 1985, S. 196 ff). Aus dieser Erfahrung zieht Nazareth ihre Konsequenzen:

„Nazareth was never again to feel even the smallest stirring of affection, or even of liking, for any male past toddling age. Not even for her own sons.“ (Elgin, 1985, S. 202)

Die von den Männern in The Judas Rose bestimmte Sexualität be­schränkt sich auf technische Aktivitäten, die sie mit ihren Ehefrauen in sogenannten rendezvous rooms zelebrieren (vgl. Elgin, 1988, S. 61). Die Männer sind von Sexualität in ebenso großem Maß verunsichert, wie die Frauen von ihr angewidert sind: sie vergewis­sern sich ständig der Loyalität ihrer Ehefrauen in Hinblick auf ihre standardisierten Sexu­alpraktiken (vgl. Elgin, 1988, S. 300). Die Frauen der Linien partizipieren am Geschlechtsverkehr mit ihren Männern nur noch durch physische An­wesenheit und entziehen sich jeglicher emotionaler Beteiligung. Sie hof­fen, damit erreichen zu können, daß die Männer, sollte es ihnen jemals auffallen, lernen, die sexuellen Beziehungen für alle Beteiligten attrak­tiver zu gestalten (vgl. Elgin, 1988, S. 297 f).

Einige der Frauen der Linien leiden ernsthaft unter der Situation, die ihnen die Befriedigung eigener sexueller Bedürfnisse verwehrt, zumal Masturbation, wie Belle-Charon feststellt, auf die Dauer keine befriedi­gende Lösung ist (vgl. Elgin, 1988, S. 297 f). Gerade unter den geschil­derten Bedingungen ist es unerklärlich, weshalb die Frauen der Linien nicht spätestens in dieser Situation sexuelle Beziehungen untereinander beginnen. Lesbische Beziehungen werden bei Elgin jedoch weder als Beispiel für selbstbestimmte Sexualität noch als Notlösung genannt.  Lediglich bei den älteren Frauen, die im Barren House leben, ist zumindest die An­deutung von Erotik in Form von Liebe und Solidarität füreinander er­wähnt,

„(…) their devotion to one another, not just to the invali­ds who might have called to any woman’s compassion but devotion even to the most irritating among them (…)“ (Elgin, 1985, S. 213).

Auf eben diese Art von Fürsorglichkeit und Hingabe bezieht sich Rich, wenn sie schreibt:

„If we consider the possibility that all women (…) exist on a lesbian continuum, we can see ourselves as moving in and out of this continuum, whether we identify ourselves as lesbian or not.“[196]

Bis auf Jeannine, die stärker als die anderen Js in konven­tionellen Zwängen verharrt (vgl. Russ, 1985, S. 16), entwickeln die Protagonistin­nen in The Female Man Formen sexuellen Verhaltens, die an ihren eige­nen Interessen orientiert sind. Jael hält sich Davy als Sexobjekt (vgl. Russ, 1985, S. 185), Janet hat ohnehin nie die be­klemmenden Auswir­kungen gesellschaftlich verordneter Zwangshete­rosexualität kennengelernt, und Joanna stellt das ihr diesbezüglich aufgezwungene Ideal im Verlauf des Romans in Frage (vgl. Russ, 1985, S. 208 f). Die Verschiedenheit der Entwicklung in Hinblick auf Sexualität wirft nach Farley eine wesentliche Frage auf:

„Ist es für eine, die sich als Jedefrau empfindet, möglich, Lesbia­nismus aus der ‚Unwirklichkeit‘ oder Phantasie in die ‚Wirklichkeit‘ zu verlagern? Der Roman beschreibt die Momente des Kampfes.“[197]

Im Gegensatz zu Russ, in deren utopischer Gesellschaft While­away keine Männer vorkommen, weil ein beide Geschlechter umfassendes Kon­zept für sie derzeit nicht realistisch ist[198], bein­haltet Piercys Utopie den Versuch, die Aufhebung von Geschlechter­rollen auch in bezug auf Sexua­lität darzustellen:

„All coupling, all befriending goes on between biological males, biological females, or both. That’s not a useful set of cate­gories. We tend to divvy up people by what they’re good at and bad at, strengths and weaknesses, gifts and failings.“ (Piercy, 1977, S. 214)

In Connies dystopischer Gegenwart sind unterschiedliche Formen von Sexualität in jedem Fall in klar umrissene Schemata gepreßt. Connies Mitpatientin Sybil beispielsweise wird als lesbisch einge­ordnet, obwohl sie lediglich die mangelnden Möglichkeiten, weibliche Sexualität auszuleben, kritisiert und für sich die Konsequenz gezogen hat, überhaupt kein ak­tives Sexualleben zu haben:

„Who wants to be a hole? (…) Do you want to be a dumb hole people push things in or rub against? As for sex, it reminded me of going to the dentist the only time I indulged.“ (Piercy, 1977, S. 85)

Laur, in The Female Man eine Art jüngere Ausgabe Joannas, sieht für sich die Ausweglosigkeit, die sich aus der Entscheidung ergibt, ent­weder sich den herrschenden männlich definierten Normen anzupassen und gesellschaftlich anerkannt zu sein oder auf der anderen Seite um den Preis der Akzeptanz ihrer Person durch ihre Umwelt eigene, selbstbe­stimmte Wege zu gehen. Sie schildert ihren Konflikt:

„I’ve never slept with a girl. I couldn’t. I wouldn’t want to. That’s abnormal and I’m not, although you can’t be normal unless you do what you want and you can’t be normal unless you love men. To do what I wanted would be normal, unless what I wanted was ab­normal, in which case it would be ab­normal to please myself and normal to do what I didn’t want to do, which isn’t normal.“ (Russ, 1985, S. 68)

Auch Joanna stellt fest, daß sie, wenn sie lesbisch ist, sich eines Teils ihrer Probleme entledigt, wenngleich sie sich andere da­mit aufhalst. In Laurs Fall wird der Konflikt dadurch gelöst, daß sie sexuelle Ambi­tionen gegenüber Janet entwickelt und diese in der Folge regelrecht verführt. Dies geschieht nicht ohne Schwierigkeiten, ist aber, im nach­hinein betrachtet, ein für Laur adäquater Einstieg in den Prozeß, zu selbstbestimmter Sexualität zu finden:

„It was incompletely and desperately inadequate, but it was the first major sexual pleasure she had ever received from another human being in her entire life.“ (Russ, 1985, S. 74)

Russ stellt in The Female Man immer wieder die Verantwortung heraus, die Personen in Hinblick auf ihr eigenes Sexualleben und das anderer haben. Verantwortlicher Umgang mit sich selbst in jeder Hinsicht ist für Russ Voraussetzung für ebenso verantwortlichen Um­gang mit ande­ren. Das betrifft deswegen ganz besonders den Bereich von Sexualität und Erotik, weil ein selbstbestimmter Umgang hiermit für Frauen Neuland ist, wenn sie in ihrem bisherigen Leben in jeder relevanten Hinsicht fremdbestimmt, sprich: männerbestimmt, waren. Daß dies nicht in jeder Gesellschaft so sein muß, wird wiederum am Beispiel Whileaways deutlich: hier orientiert sich die Sexualität jeder einzelnen an ihren individuellen Bedürfnissen, und zwar von der Jugend an:

„Sexual relations – which have begun at puberty – continue both inside the family and outside it, but mostly outside it. Whileawa­yans have two explanations for this. ‚Jealousy,‘ they say for the first explanation, and for the second, ‚Why not?'“ (Russ, 1985, S. 52)

Daß von den eigenen Bedürfnissen gesteuerte Sexualität alle ande­ren relevanten Lebensbereiche bestimmt, erklärt Joanna iro­nisch, fast sarkastisch der vergleichsweise schüchternen, zurückhal­tenden, angepaß­ten Jeannine, als diese auf Janets Bett ein Vibra­tor-ähnliches Gerät findet, wie es in Whileaway häufig und gern benutzt wird:

„What it does to your body (…) is nothing compared to what it does to your mind, Jeannine. It will ruin your mind. It will explode in your brains and drive you crazy. You will never be the same again. You will be lost to respectability and decency and decorum and dependency and all sorts of other nice, nor­mal things begin­ning with a D. It will kill you, Jeannine. You will be dead, dead, dead.
Put it back.“ (Russ, 1985, S. 148)

Zusammenfassend bleibt zu sagen, daß bei aller Unterschied­lichkeit der Entwürfe für eine neue, den Interessen von Frauen ge­recht werdende Sexualität den untersuchten Werken eines gemein­sam ist: die scharfe Kritik an den in der Ausgangsgesellschaft herrschenden Verhältnissen. Die Umsetzung der sich daraus erge­benden Forderungen findet auf ver­schiedene Weise statt: bei Elgin taktieren die Frauen auf Umwegen und hoffen darauf, daß die Männer sich bessern, Piercy entwickelt eine Gesell­schaft, in der die sexuelle Hierarchie analog der gesellschaftlichen Hier­archie aufge­hoben ist, und Russ betont die Möglichkeit, selbstbestimmte Sexuali­tät unabhängig von männlicher Beteiligung auszuleben. Ein wich­tiges Thema ist Sexualität als Teil einer kritisch hinterfragten Gegenwart jedoch bei allen drei Autorinnen.

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[182]          vgl. Holland-Cunz, 1988, S. 94

 

[183]          Bartkowski, 1991, S. 63

[184]          Cranny-Francis, 1990, S. 47

[185]          Cranny-Francis, 1990, S. 135

[186]          vgl. Moylan, 1990, S. 148

[187]          Armitt, 1991, S. 134

[188]          vgl. Kapitel 2.2

[189]          vgl. Kapitel 6.1 und 6.2

[190]          Armitt, 1991, S. 132/133

[191]          vgl. Devine, 1988, S. 135 in bezug auf Piercy

[192]          Bartkowski, 1991, S. 76

[193]          Zumindest kann nach der technischen Beschreibung, die Russ gibt, Davy nur ein Android sein. Ein Android ist ein künstliches Wesen, das aussieht wie ein Mensch (oder wie eine andere gewünschte dem jeweiligen Text zugrundeliegende Spezies). Es ist aus biologischen und elektronischen bzw. mechanischen Teilen zusammengesetzt, je­doch überwiegen häufig die biologischen Bauteile. Zur Definition vgl. auch Alpers u.a., 1982, S. 283/285/286.

[194]          vgl. Holland-Cunz, 1988, S. 319

[195]          vgl. Holland-Cunz, 1988, S. 157

[196]          Rich, 1986, S. 25

[197]          Farley, 1986, S. 192/193

[198]          vgl. Kapitel 5.1


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