9  Möglichkeiten der Utopie: Zukunftsplanung oder Vision

Entgegen ihrer Vorannahme, so stellt Holland-Cunz fest, die von einem Primat der Theorie ausging, ist die Utopie in der Lage, einen realistischen und kompetenten Beitrag zur Entwicklung längerfristi­ger Perspektiven zu leisten[222]. Dies kann jedoch nur ein Aspekt sein: die feministische Utopie ist keine Gebrauchsanleitung für die Zu­kunft und soll auch gar keine sein. Vielmehr soll sie zeigen, daß das Unmögliche, wenn auch (noch) nicht möglich, so doch zumindest denkbar ist. Darüber hinaus bietet sie die Gelegenheit aus der ei­genen Haut herauszuschlüpfen und jemand ganz anderes zu sein. Je weiter jemand von den Machtzentren entfernt ist, desto schwerer ist es für sie oder ihn, sich politisch und gesellschaftlich einzubringen, konstatiert Piercy, und bietet fiktionale Charaktere in Büchern als einen möglichen Ausweg an[223].

Darüber hinaus ist feministische Literatur, sei sie nun uto­pisch oder nicht, eine Chance für Männer, mit Themen umzugehen, an die sie sich in der Praxis nicht wagen:

„Fiction works no miracles of conversion, but I guess I do be­lieve (…) That any man who reads enough of current women’s literature is less likely to be ignorant of what women want and need and don’t want and don’t need.“[224]

Im Gegensatz zu Russ und Piercy hat Elgin thematisiert, wie die Beteiligung der Männer langfristig aussehen könnte. Zwar geht auch sie nicht davon aus, daß bereits in der Ausgangsgesellschaft Männer und Frauen gemeinsam eine bessere Zukunft für alle entwickeln können, sie hofft jedoch auf eine Änderung. Diese kann nach Elgin nur dadurch herbeigeführt werden, daß die Frauen ein Beispiel dar­stellen. Nazareth Chornyak beschreibt dies in ihren Tagebüchern:

„And then there comes the next question: why don’t we simply tell them? (…) I can turn that straight back and ask a question of my own: would they propose that an infant could learn to speak a language if someone would simply have the kindness and the consideration to tell it how?“ (Elgin, 1988, S. 345/346)

Wenn vorausgesetzt wird, daß es wünschenswert, praktikabel oder sinnvoll ist, Männer in die Zukunftsplanung einzubeziehen, ist es sicherlich ein langer Prozeß, sie dazu zu bringen, sich überhaupt dafür zu interessieren; so die Quintessenz aus dem, was Elgin schreibt. Piercy und Russ gehen hier anders vor: bei Piercy sind diejeni­gen aufgebrochen, die sich für die Erhaltung der Erde als Lebens­raum für Menschen bereits interessierten und haben ihre Interessen in einem langen Krieg durchgesetzt. Russ vertritt hier einen Stand­punkt, der, wiewohl früher formuliert, über den Piercys hinausgeht: wenn eine Gesellschaft unter Gleichen beider Geschlechter nicht möglich ist, kann es, so zeigt sie, auch ohne Männer gehen. Bei al­len drei Autorinnen ist der Preis, den die Protagonistinnen und ihre Mitstreiterinnen für eine Freiheit in der Zukunft zahlen müssen hoch; bei Elgin wird jahrzehntelange Unterdrückung weiterhin in Kauf genommen, bei Russ und Piercy erkaufen die Aufständischen Utopia mit einem langen, verlustreichen Krieg.

Insofern wird deutlich, daß die Utopie zwar eine Möglichkeit darstellen kann, die Zukunft zu gestalten, die einzelnen Aktivitäten und die moralischen und ethischen Implikationen sind jedoch der Beurteilung der Leserinnen und Leser zu überlassen. Eine Botschaft wird in allen untersuchten Romanen deutlich: wenn nichts getan wird, wenn alle passiv bleiben, wird sich die Zukunft zum Schlech­teren verändern.

„Wir  haben diesen Planeten verlassen, die Menschheit hat den Planeten verlassen. (…) Wir können hier nicht ewig sitzen bleiben und immer die gleichen Gedanken denken.“
Doris Lessing

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[222]          vgl. Holland-Cunz, 1988, S. 361 f

[223]          vgl. Piercy, 1989, S. 112/113

[224]          Piercy, 1989, S. 114/115


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