Das ausgehende 18., beginnende 19. Jahrhundert ist ganz sicher keine Zeit für Frauen, nicht einmal für wohlhabende: Ihren Ehemännern und männlichen Verwandten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, ohne eigene Meinung, ohne Schulbildung, Beruf, Geld und Identität, bleiben sie ihr Leben lang seltsam unfertige Anhängsel irgendeines Mannes. Dieses Schicksal soll der kleinen Tochter von Mary Ann erspart bleiben. Damit ihre Talente nicht vergeudet werden, schließen drei betrunkene Männer einen Pakt und statten sie mit einer männlichen Identität aus. Fortan ist sie James Miranda Barry, wird nach Edinburgh zum Medizinstudium geschickt und macht schließlich Karriere als Militärarzt in den Kolonien; ein unbequemer Zeitgenosse mit modernen Ideen, einem aufbrausenden Charakter und einer unerklärlichen erotischen Anziehungskraft auf Männer wie auf Frauen.

Es gibt noch einen zweiten Pakt, der Barrys Leben prägen soll: mit dem Küchenmädchen Alice Jones verbindet ihn eine lebenslange enge Beziehung, die begann, als er sie lesen lehrte und ihr damit den Weg in ein unabhängiges Leben eröffnete. So haben beide die Schranken überwunden, die die Gesellschaft ihrer Zeit ihnen auferlegte; der Preis der Freiheit ist ihre Trennung. Alt geworden, finden sie sich schließlich in London wieder.

An dem Roman von Patricia Duncker ist eigentlich alles toll, ganz besonders aber – neben der großartigen Sprache – die detaillierten Schilderungen des Lebens im frühen 19. Jahrhundert: die medizinischen Errungenschaften (wenn man’s denn so nennen will), das Leben der Machthabenden in den Kolonien, die komplizierten, von strengen gesellschaftlichen Regeln bestimmten Verhältnisse in der gehobenen Gesellschaft. Dass Barry keine reine Romanfigur ist, sondern – ebenso wie eine Reihe anderer Personen  in Dunckers Roman – eine historische Vorlage hat, macht das Buch besonders spannend.

Patricia Duncker: James Miranda Barry; Berlin Verlag; 495 Seiten