Frauenbild in Skulptur und Plastik der Altsteinzeit
(1992)
1 Frauen kommen vor
Die traditionelle Geschichtsforschung legt häufig den Schluss nahe, es gebe keine Frauen in der Geschichte der Menschheit. Anders ausgedrückt: Frauen haben keine Geschichte.
Die Menschheitsgeschichte beginnt damit, dass männliche Höhlenbewohner heldenhaft gegen Mammuts kämpfen, die Kämpfe in Form ihrer Höhlenzeichnungen dokumentieren und, nebenbei, das Feuer, verschiedene Waffen und andere Segnungen der Menschheit erfinden. Später erfinden die Männer die Töpferei und bauen Häuser, die ihre (währenddessen Däumchen drehenden?) Frauen schützen sollen, lernen Ackerbau und Viehzucht und schmieden Eisen, um Waffen herzustellen, mit denen sie andere Männer bekriegen können.
Im alten Ägypten bauten die männlichen Sklaven ihren Königen (männlich) Pyramiden und erfanden die Hirnchirurgie. Die männlichen griechischen Künstler stellten bisweilen Göttinnen auf Sockel; die lebenden Griechen jedoch waren in der Mehrzahl männlich, sie dichteten, erfanden, bauten, modellierten und führten Krieg, letzteres wurde von den männlichen Römern einige Jahrhunderte später zur Kunst idealisiert.
Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. dass die Feststellungen, so wie sie getroffen werden, nicht schlüssig sind, stört die – meist männlichen – Forscher nicht: andere Darstellungen tauchen zwar hier und da auf, finden jedoch keinen Eingang in die Geschichtsbücher.
Es gibt sicherlich unterschiedliche Herangehensweisen an die eigene Geschichte. Es ist möglich, stolz auf sie zu sein, ihr kritisch gegenüberstehen, sie abzulehnen. Es ist möglich, aus der Geschichte zu lernen, positiv wie negativ. Vielleicht kann sie auch ignoriert werden. Um jedoch diese Wahl zu haben, ist eine eigene Geschichte und damit Geschichtsforschung notwendig.
Um den Satz vom Beginn abzuwandeln: Frauen haben keine Geschichte … außer der, die sie selbst schreiben.
2 Wirklichkeiten: Wie ihre Konstruktion den Blick verändert
Es ist ebenso ein Vorteil, wie es ein Nachteil sein mag, dass über Geschichte von Frauen sehr wenig geforscht wurde: so sind die zur Verfügung stehenden Quellen zwar zahlenmäßig sehr gering und die Informationen entsprechend spärlich, jedoch eröffnet ebendies auch die Möglichkeit, eigene Anschauungen und Deutungen zu entwickeln, die sich nicht an vorab feststehende Interpretationen anlehnen.
Da ein Großteil der wenigen Literatur, die überhaupt zur Verfügung steht, schlichtweg unbrauchbar ist, nimmt diese Arbeit im Wesentlichen auf einige wenige Beiträge Marie Königs und Margaret Ehrenbergs Bezug.
Neben der Sichtung und Verwendung bzw. dem Verwerfen von Literatur ist m.E. die Betrachtung der Werke, die beschrieben und interpretiert werden sollen, eine wichtige Voraussetzung. Insbesondere im Bereich Plastik und Skulptur stehen im Gegensatz zur Malerei, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum brauchbare Reproduktionen zur Verfügung. Darüber hinaus scheint mir persönlich ein erheblicher Unterschied zwischen der Ausstrahlung eines Originals und einer Kopie, und sei sie auch noch so gut, zu bestehen. Von daher erschien es mir sinnvoll, anlässlich einer Reise nach Paris die im dortigen Musée de l’Homme ausgestellten altsteinzeitlichen Skulpturen zu besichtigen. Das Musée de l’Homme verfügt über eine größere Anzahl von Kultur- und Kunstzeugnissen, die, was besonders positiv hervorzuheben ist, dort in ihrem (rekonstruierten) gesellschaftlichen und umweltbezogenen Kontext präsentiert werden. Mein besonderes Interesse galt dort der Venus von Lespugue, einer altsteinzeitlichen Skulptur, von der ich auch eine Kopie erwarb und die im Verlauf der vorliegenden Arbeit näher behandelt wird.
Da, aus naheliegenden Gründen, keine schriftlichen Überlieferungen der Altsteinzeit bekannt sind, jedoch trotzdem der Anspruch besteht, eine Skulptur nicht nur unter formalästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten, sondern einen ganzheitlichen Zusammenhang herzustellen, kann es sinnvoll sein, sich bei der Untersuchung auf Wege zu begeben, die konventionellen wissenschaftlichen Ansprüchen kaum zu genügen in der Lage sind, wie auch König feststellt:
„Das, was zu finden ist, bleibt immer die äußerliche Folge und ist nicht die innere Ursache. Da es geistige Vorgänge sind, die zu den sichtbaren Resultaten führten, blieben weite Kreise der im Dinglichen etablierten Wissenschaft den historischen Untersuchungen abgeneigt.“
Eine Fragestellung, die ich persönlich bevorzuge, ist: wie muss sich eine Person fühlen, die etwas Bestimmtes schafft? Welche Motivation bewegt sie? Ein besonderer Aspekt hierbei betrifft die Schlüssigkeit des historischen Entwurfs, der der Überlegung zugrunde liegt und mit der Zeit durchaus veränderlich ist.
2.1 Methodisches Vorgehen
Die vorliegende Arbeit ist im wesentlichen in zwei Untersuchungsschritte eingeteilt. Zunächst wird die künstlerische Entwicklung aus der Zeit vor der Entstehung überlieferter Frauenskulpturen kurz dargestellt, wobei symbolhaften Darstellungsformen besondere Beachtung zuteilwird.
Im Anschluss werden speziell Frauen darstellende Skulpturen, Plastiken und Reliefs vorgestellt. Wie bereits erwähnt, wird der Venus von Lespugue eine hierbei eine besondere Rolle zuteil. Das ist nicht ausschließlich auf persönliche Interessen zurückzuführen, sondern auch wesentlich auf die geringe Anzahl altsteinzeitlicher Werke, die ich bislang im Original besichtigen konnte. Von daher ist die Entscheidung, gerade die Venus von Lespugue in den Mittelpunkt dieser Hausarbeit zu stellen, zwar subjektiv, soll jedoch in keiner Hinsicht eine Wertung bezüglich ihrer speziellen Bedeutung implizieren.
Das 4. Kapitel schließt mit der Darstellung unterschiedlicher Interpretationsansätze. Die möglichen Deutungen werden in Hinblick auf ihre Schlüssigkeit kurz betrachtet.
2.2 Zeitrahmen
Der Beginn der Altsteinzeit wird auf etwa 800.000 vor unserer Zeitrechnung datiert; sie endete um 12.000 v. Chr. Das Altpaläolithikum dauerte bis etwa 150.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, das Mittelpaläolithikum, auch Neandertalzeit, von 150.000 bis 50.000 und das Jungpaläolithikum von ca. 50.000 bis 10.000 oder 12.000. Diese Phasen sind darüber hinaus kulturell in sechs Stufen eingeteilt, die jedoch in der Literatur zeitlich sehr unterschiedlich festgelegt werden. In Hinblick auf die frühesten handwerklichen Erzeugnisse mit noch erkennbarer künstlerischer oder kultischer Aussage wird in der mir bekannten Literatur von einem Zeitpunkt ausgegangen, der etwa 300.000 bis 350.000 Jahre zurückliegt. Die für die vorliegende Hausarbeit relevanten bekannten Skulpturen stammen aus der jüngeren Altsteinzeit und sind zwischen 20.000 und 60.000 Jahre alt. In der Tabelle auf der folgenden Seite wird der Versuch unternommen, die dieser Arbeit zugrundeliegenden künstlerischen Werke zeitlich einzuordnen.
3 Frühe künstlerische Darstellungen
König geht davon aus, dass für die Menschen der Altsteinzeit zwei voneinander getrennte Welten existierten; zunächst die der fassbaren, offensichtlichen Dinge, welche folglich, da sie für alle sichtbar zutage traten, keinerlei Darstellung bedurften. Darüber hinaus existierte die Welt des (damals) Unerklärlichen. Erkenntnisse über diese Welt mussten mittels Symbolen, Kultgegenständen und Kulthandlungen verdeutlicht und überliefert werden.
Die frühesten Gegenstände, denen einerseits kaum praktische Bedeutung beigemessen werden kann, die auf der anderen Seite jedoch offensichtlich von Menschen hergestellt wurden, sind ca. 300.000 Jahre alt. Es handelt sich hierbei um zur Kugelform behauene Steine, deren Durchmesser 8,9 – 10,5 cm beträgt. Aus der gleichen Zeit stammen andere Sphäroide, die aus Löß hergestellt waren. König interpretiert die Sphäroide als Darstellung der (vermeintlich sichtbaren) Himmelsrundung. Aus dem Altpaläolithikum, das vor etwa 150.000 Jahren endete, sind nur wenige Zeugnisse menschlichen Kunsthandwerks gefunden worden. Die handwerkliche Bearbeitung von Stein, beispielsweise die Herstellung von Werkzeugen, war zu dieser Zeit schon lange bekannt: die ältesten bekannten Werkzeugfunde werden auf ein Alter von mindestens drei Millionen Jahren datiert. Die geringe Zahl existierender Funde kann beispielsweise darauf zurückzuführen sein, dass die damaligen Sammlergesellschaften ihren Kult zunächst an natürlichen Formen festmachen konnten und erst später, als die menschliche Weltanschauung differenzierter wurde, auf handwerkliche Herstellung ausweichen mussten. Darüber hinaus, und dies gilt auch für alle folgenden Zeitalter, sind kultische und künstlerische Darstellungsformen denkbar, die kaum dokumentiert werden konnten, beispielsweise rituelle Tänze und Performance-ähnliche Darstellungen.
Die im Sphäroid zum Ausdruck gebrachte Himmelsanschauung in Form der Kugel wurde im Mittelpaläolithikum weiter differenziert. Um sowohl die äußere, konvexe als auch die innere, konkave Form der Kugel darzustellen, wurden den immer noch abgebildeten Kugeln Schälchen, häufig als Vertiefungen in Stein gehauen, gegenübergestellt, die teilweise im Viereck angeordnet waren. Da bereits die Menschen der Neandertalzeit, wie aus den Überresten von Bestattungsritualen ersichtlich ist, verschiedene Himmelsrichtungen kannten und auseinanderhalten konnten, lag der nächste Schritt nahe: die Verbindung der vier Kardinalpunkte mittels Linien, die ein Kreuz bildeten.
(Grafik fehlt online)
Sphäroid aus dem Mittelpaläolithikum; Durchmesser 2,1 cm; Fundort: Tata, Ungarn; Abb. aus König, 1984, S. 115
Durch die unterschiedlichen Bedeutungen, die Schale bzw. Kugel und Linie bzw. Linienkreuz hatten, ergaben sich vielfältige Kombinationsmöglichkeiten. Die Menschen der Neandertalzeit besaßen die Möglichkeit, auch komplexere Erkenntnisse über ihre Weltanschauung zu überliefern. Analog zur Differenzierung in der kultischen bzw. künstlerischen Darstellung entwickelte sich eine präzisere und abstraktere Sprache.
3.1 Die altsteinzeitliche Skulptur
Die Skulptur der Altsteinzeit ist nach König nicht getrennt von anderen künstlerischen und kultischen Darstellungen wie ritualisierten Begräbnissen oder Höhlenmalereien zu betrachten; vielmehr stellt sie einen integralen Teil der symbolhaften Abbildungen dar. Im Gegensatz zur (fest installierten) Kultstätte, der Höhle, konnte sie auf Wanderungen und Jagdzüge mitgenommen werden. Kühn stellt fest, dass es neben zahlreichen Frauendarstellungen auch Abbildungen von Tierköpfen und -körpern gibt, darüber hinaus existieren einige Statuetten, die als androgyn gedeutet werden können. Wie bereits bei den Grundmustern der Kugel und Linie entwickelte sich die Ausarbeitung altsteinzeitlicher Skulpturen anhand der Ausdrucksbedürfnisse der Menschen; im Magdalénien beispielsweise wurden andere Schwerpunkte der Gestaltung gesetzt als zuvor:
„Die Skulptur, vorher, im Aurignacien axial gebunden, durch Konturierung festgelegt, ist frei geworden von aller Bindung, das Raumproblem steht voll im Vordergrund, die Frage der Bewegung, der Beleuchtung in Licht und Schatten.“
Die späten Statuetten sind abstrakter als die früher entstandenen. Der damit einhergehende Verlust der Menschenähnlichkeit weist nach König auf eine Klärung und Präzision des zugrundeliegenden Gedankens hin. Die Frauendarstellungen sind offensichtlich nicht naturalistisch, es fallen merkwürdige Verzerrungen, Auslassungen und Übertreibungen auf. Dies ist, wie König feststellt, beabsichtigt. In Hinblick auf die Höhlenmalereien der Altsteinzeit wird deutlich, dass die damals lebenden Menschen durchaus in der Lage waren, präzis abzubilden. Die Deformationen der Frauenkörper sind infolgedessen nicht auf künstlerischen Unvermögen zurückzuführen.
Die altsteinzeitlichen Frauenstatuetten lassen sich grob in zwei unterschiedliche Grundformen einteilen: runde Figuren, wie beispielsweise die Venus von Willendorf und dreigeteilte, wie die Venus von Lespugue. Später fanden weitere Abstraktionen statt. Auf Einzelbeispiele wird in den folgenden Abschnitten der vorliegenden Arbeit näher eingegangen.
3.2 Die „Venus von Lespugue“
Da ich das Original der Venus von Lespugue im Musée de l’Homme in Paris zwar besichtigen, jedoch nicht betasten konnte, beziehen sich diejenigen Teile der folgenden Beschreibung, die das plastische Erfassen der Statuette erfordern, auf die mir vorliegende Reproduktion.
Die Venus von Lespugue wurde vor ca. 25.000 Jahren hergestellt. Der Name der Künstlerin bzw. des Künstlers ist nicht bekannt.
Gefunden wurde die Statuette 1922 in der Höhle von Rideaux bei Lespugue (Haute Garonne) in Frankreich von R. de Saint-Périer. Sie ist aus Elfenbein gefertigt.
Wie auf der ersten Blick zu erkennen ist, handelt es sich bei der Venus von Lespugue um eine weibliche Figur. Sie ist dreigeteilt. Das obere Drittel besteht aus einen stilisierten Kopf ohne Gesichtszüge und Frisur. Fast ohne sichtbaren Hals schließt sich unter den rund abfallenden Schultern der extrem abgeflachte Brustkorb an. Arme sind nur angedeutet und enden ohne Hände auf der Brust. Im mittleren Teil der Statuette treffen alle maßgeblichen Rundungen zusammen. Deutlich zu erkennen sind zwei überproportional große Brüste, die auf dem gewölbten Bauch aufliegen. Direkt darunter, deutlich hervorgehoben, das Schoßdreieck. Verbreitert wird dieser zentrale Teil durch stark gerundete Hüften, deren Breite fast der halben Länge der Figur entspricht. Das untere Drittel der Venus von Lespugue spiegelt das obere Drittel wieder. Analog der Verbreiterung des oberen Drittels zum Zentrum hin wird die Figur von der Mitte bis zum unteren Abschluss schmaler. Die Füße fehlen.
In der Rückansicht verstärkt sich der Eindruck der Dreiteilung. Das Zentrum wird hier von den ausladenden Hüften gebildet, unter denen ein Muster aus Linien angebracht ist. In beiden Seitenansichten sind die Wölbungen von Brüsten, Bauch, Hüften und Schoßdreieck deutlich zu erkennen.
Von vorne und von hinten betrachtet ist die Figur streng symmetrisch. In der Seitenansicht wirken die Abrundungen der breiten Hüften wie eine langgestreckte Polinie. Hierdurch wird vermieden, dass die Kombination von Brüsten, Bauch und Schoßdreieck die Skulptur optisch nach vorne kippen lässt.
Wird eine horizontale Linie etwa in der Mitte der Hüften gezogen, sind die obere und die untere Hälfte wiederum fast gleich: die kürzere untere Hälfte wäre anglichen, wenn Füße vorhanden wären.
Die Venus von Lespugue kann bequem in einer Hand gehalten werden. Die in meinem Besitz befindliche Reproduktion hat eine glatte, polierte, etwas kühle Oberfläche. Da das Original nur in einer Glasvitrine zu besichtigen war, können über seine Beschaffenheit hier kaum Aussagen gemacht werden; jedoch vermittelte es – visuell – den Eindruck, es könne sich ähnlich anfühlen. Wird die Figur mit der Vorderseite nach unten in der Hand gehalten, füllen ihre Brüste die Handmulde aus, der Kopf liegt auf dem Daumen auf und der untere Teil der Beine ragt über die Hand hinaus. Beim Drehen der Figur auf eine Seite fühlt sie sich unpassend, unrund an. Wird sie auf den Rücken gedreht, füllen die breiten Hüften den Handteller zwischen Daumenballen und Fingergelenken aus; der freie Daumen kann dann auf dem abgeflachten Brustkorb liegen.
Beim Versuch, die Venus von Lespugue nachzustellen, wird deutlich, dass die Intention des Künstlers oder der Künstlerin kaum darin bestanden haben kann, eine menschliche Frau abzubilden. Die fehlenden Füße und Hände betonen das Zentrum, indem sie keinerlei Ablenkung ermutigen. Ein Gesicht ist nicht vorhanden; die möglicherweise aus ihrem Gesichtsausdruck zu schließende Befindlichkeit soll keine Rolle spielen. Die Vorstellung, eine lebende Person mit den abgebildeten Proportionen könne beispielsweise Kaninchen fangen oder auch nur Brombeeren pflücken, ist schlichtweg absurd. Von daher drückt die Statuette keine konkreten Sichtweisen aus, sondern eine symbolhafte Interpretation liegt näher. Dieser Eindruck erhärtet sich dadurch, dass bei der Venus von Lespugue, wie auch bei allen anderen altsteinzeitlichen Frauenstatuetten die Füße fehlen: was auch immer diese Figuren bedeuten mögen; auf keinen Fall sollen sie „mit beiden Füßen fest auf dem Erdboden stehen“.
Insgesamt betrachtet, weist die Venus von Lespugue sowohl Stabilität als auch Labilität auf: stabil ist sie in sofern, als das runde Körperzentrum stark und fast unangreifbar wirkt. Brüste, Bauch und Schoßdreieck sind untrennbar verbunden. Die Labilität der Figur ist dadurch gegeben, dass sie gehalten werden muss, soll sie nicht zu einer Seite hin abkippen. Wird sie auf den Rücken gelegt, sinkt der Kopf nach unten, bei Bauchlage berühren die Enden der Beine den Boden.
3.3 Andere Frauendarstellungen in Skulptur und Plastik
Ebenso wie die Venus von Lespugue sind auch viele andere altsteinzeitliche Frauendarstellungen frontal ausgerichtet. Eine der berühmtesten Statuetten ist die Venus von Willendorf.
Sie ist etwa 10 cm hoch und besteht aus rot bemaltem Kalkstein. Offenkundig ist sie älter als die Venus von Lespugue: ihr Körper ist sehr viel weniger abstrakt. Im Gegensatz zur Venus von Lespugue hat sie einen großen Kopf, allerdings auch ohne Gesicht, der ein an eine Rundschnecke erinnerndes Ornament aufweist. Auch ihr fehlen die Füße, die Arme liegen verkümmert auf den überproportional großen Brüsten. Bauch und Hüften sind nicht getrennt, sondern gehen ineinander über; die Bauchrundung
zieht sich über den gesamten Körper. Die etwa 30.000 Jahre alte Skulptur befindet sich im Besitz des Naturhistorischen Museum Wien. Bei meinem Besuch im Musée de l’Homme in Paris hatte ich jedoch Gelegenheit, eine Reproduktion zu besichtigen.
Zur Entstehungszeit der Frauenstatuetten setzte sich auch eine andere Art kultischer Skulptur durch: die androgyne Darstellung. Diese Figuren basieren einerseits auf den klassischen Gestaltungselementen, der breiten Körpermitte, der Abstraktion bzw. dem Fehlen von Kopf und Füßen, sie sind jedoch auf der anderen Seite erweitert um männliche Geschlechtsorgane. Die Größe dieser Figuren variiert von wenigen Millimetern bis zu ca. 10 cm. Spätestens hier wird deutlich, dass kaum intendiert gewesen sein kann, realistisch abzubilden, sondern dass die Figuren den Sinn hatten, Gedanken und Weltanschauungen allgemeinverständlich umzusetzen.
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist ein genaueres Eingehen auf die einzelnen Schwerpunkte in den verschiedenen Darstellungen kaum möglich. Daher soll an dieser Stelle nur kurz erwähnt werden, dass Frauendarstellungen nicht nur als transportable Figurinen gefertigt wurden, sondern in Form von Reliefs auch Eingang in die einzelnen Kulthöhlen fanden. Bei diesen Reliefs ist die ganzheitliche Intention der Künstler und Künstlerinnen besonders deutlich, weil der eigentlichen Figur im Relief Accessoires beigefügt werden können, die die eigentliche Botschaft verdeutlichen, wie beispielsweise bei der Venus von Laussel. Mittels Aneinanderreihung mehrerer Darstellungen können auch Entwicklungen gezeigt werden. In beiden Fällen wird die Aussage bekräftigt, ohne dass es notwendig erscheint, die eigentliche Figur zu überladen.
Wie bereits an den in Willendorf und Lespugue gefundenen Statuetten exemplarisch sichtbar, wurde die weibliche Form der Statuetten immer weiter stilisiert. Möglicherweise sollten Verwechslungen mit echten Frauen ausgeschlossen werden, vielleicht war auch das Bild der die Symbole quasi umgebenden Frauengestalt allgemein so bekannt, dass darauf verzichtet werden konnte, es explizit abzubilden. Welchen Grund dies auch immer gehabt haben mag: zumindest reduzierten sich gegen Ende des mittleren Magdalénien die Statuetten auf das bereits zuvor wesentliche. Es genügte, ein oder zwei der gängigen Symbole, die durch Brüste, Bauch, Hüften und Po ausgedrückt waren, darzustellen.
Diese Darstellungen hatten gegenüber den früheren den Vorteil, dass sie leicht waren. Da den Zusammenhang erklärender Ballast fehlte, konnten sie beispielsweise an Ketten als Schmuck getragen werden. Einige der gefundenen stilisierten Statuetten waren jedoch in einer Grube deponiert, was nahe legt, dass sie als Opfergaben fungiert haben könnten. Da, wie bereits erwähnt, schriftliche Zeugnisse aus der Altsteinzeit fehlen (normierte Schrift ist erst seit etwa 5.000 bis 6.000 Jahren überliefert) und somit komplexe Erklärungen der Bedeutung der Statuetten fehlen, scheint die Archäologie darauf angewiesen zu sein, Interpretationen allein anhand ihrer Schlüssigkeit zu akzeptieren oder zu verwerfen.
4 Interpretation: So könnte es gewesen sein
Die steinzeitlichen Frauenstatuetten wurden in Anlehnung an die römische Göttin der Liebe Venusfiguren genannt, weil sie einerseits immer nackt dargestellt waren und andererseits von Archäologinnen und Archäologen zunächst als Abbildungen von (Fruchtbarkeits-)Göttinnen betrachtet wurden. Diese Interpretation wird jedoch beispielsweise von Ehrenberg infrage gestellt, die für die Altsteinzeit eine Anbetung von Gottheiten, wie sie in der heutigen abendländischen Kultur üblich ist, für unwahrscheinlich hält:
„Die Glaubenssysteme von Wildbeutern und ähnlichen Kleingesellschaften, die mit der Natur in enger Berührung leben, haben eher allgemein mit Geistern und Naturkräften zu tun als mit personifizierten Göttern und Göttinnen.“
Auch König lehnt es ab, die altsteinzeitlichen Frauenfiguren als Göttinnen, Mütter oder andere Frauendarstellungen zu betrachten. Sie weist darauf hin, dass im Verlauf der altsteinzeitlichen Geschichte gerade nicht das mütterliche, frauliche herausgehoben wurde, im Gegenteil: wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt wurde, abstrahierte die Darstellung bis hin zur reinen Form. Sie vertritt die Auffassung, dass die Frauenstatuette eine Form der Darstellung eigener Weltanschauung ist, in der die althergebrachten Symbole Kugel und Dreieck aufgenommen und in einem anderen, erweiterten Kontext präsentiert werden. Diese Deutungsmöglichkeit wird auch bei Ehrenberg erwähnt: es könnte sich um pseudohistorische Personen handeln, die entweder als solche Teil der Mythologie sind oder aber als Figur zum Erklärungssystem der Gesellschaft beitragen könnten. In diesem Fall könnten die Statuetten als Kommunikationsmittel gedient haben, indem sie später Kommenden hinterlassen wurden.
Eine weitere, durchaus gängige Interpretation besteht darin, die Statuetten als magische Gegenstände zu betrachten. Sie könnten sowohl für Fruchtbarkeits- als auch für Schadenszauber Verwendung gefunden haben. In ersterem Fall würden die Figuren jedoch nicht als Fruchtbarkeitssymbole gewirkt haben, wie beispielsweise Kühn vermutet; vielmehr würden die sie die erwünschten Kinder darstellen. Diese Interpretation schließt auch eine Erklärung dafür ein, dass es neben vielen weiblichen auch männliche und androgyne Figuren gibt: die zukünftigen Eltern hätten festgelegt, ob sie sich ein männliches oder weibliches Kind wünschen oder ob ihnen das Geschlecht des Kindes egal ist.
Ein sehr pragmatischer Ansatz besteht darin, die Figuren für Spielzeug zu halten. Diese Theorie ist insofern sinnvoll, als häufig Exemplare gefunden werden, die den Anschein erwecken, sorglos weggeworfen worden zu sein. Darüber hinaus ist es auch denkbar, dass das Anfertigen kleiner Figuren zur Beschäftigung an Tagen diente, an denen die Menschen, genau wie auch Jahrtausende später Astrid Lindgrens Michel aus Lönneberga aus purer Langeweile schnitzten und formten, und dabei ihre Technik immer weiter vervollkommneten.
5 Literatur
dtv-Lexikon. Ein Lexikon in 20 Bänden; München: Deutscher Taschenbuch Verlag; 1975 (1966)
Ehrenberg, Margaret: Die Frau in der Vorgeschichte; München: Verlag Antje Kunstmann, 1992
Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen; Berlin: Dietz Verlag, 198716 (1946)
Fester, Richard: Das Protokoll der Sprache; in: in: Fester, Richard/König, Marie E.P./Jonas, Doris F./Jonas, A. David: Weib und Macht. Fünf Millionen Jahre Urgeschichte der Frau; Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1984 o. Aufl. (1980)
Fester, Richard: Medias in res …; in: Fester, Richard/König, Marie E.P./Jonas, Doris F./Jonas, A. David: Weib und Macht. Fünf Millionen Jahre Urgeschichte der Frau; Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1984 o. Aufl. (1980)
König, Marie E.P.: Am Anfang der Kultur. Die Zeichensprache des frühen Menschen; Berlin: Gebr. Mann Verlag, 1973
König, Marie E.P.: Das Weltbild des eiszeitlichen Menschen; Marburg: N.G. Elwert Verlag, 1954
König, Marie E.P.: Die Frau im Kult der Eiszeit; in: in: Fester, Richard/König, Marie E.P./Jonas, Doris F./Jonas, A. David: Weib und Macht. Fünf Millionen Jahre Urgeschichte der Frau; Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1984 o. Aufl. (1980)
Kühn, Herbert: Die Kunst Alteuropas; Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, 1954
Lindgren, Astrid: Michel muß mehr Männchen machen; Hamburg: Verlag Friedrich Oetinger, 1966
Weitere Lesetipps im Netz:
Maurer, Margarete: „DIE VERTREIBUNG DER FRAUEN AUS DER WISSENSCHAFTS- UND TECHNIKGESCHICHTE“. Druckfassung erschienen in: Soznat. Blätter für soz.* Aspekte der Naturwissenschaften und des naturwissenschaftlichen Unterrichts, 6.Jg., Heft 3, Juni 1983, S.119-127.
Nach der elektronischen Version auf der RLI-Homepage (im RLI-Web): http://iguwnext.tuwien.ac.at/%7Erli/Seiten/natwi/vertreibung.htm, von 1998, am 23.04.2001
Schneider, Friederike E. , Dr. phil.: „Frauenforschung, Feminismus und Ethnologie“
http://www.uni-saarland.de/%7Esu13mwfs/fem/
Ermitage Petersburg: Paläolithische Sammlung
http://www.hermitagemuseum.org/html_En/03/hm3_2_1.html
Wikipedia-Artikel Feminist anthropology