Als Lucy Renée Mathilde Schwob wurde Claude Cahun am 25. Oktober 1894 im französischen Nantes geboren. Sie stammt aus einem intellektuellen jüdischen Elternhaus. 1909 lernte ihr Vater seine zweite Ehefrau kennen, mit deren Tochter Suzanne die fünfzehnjährige Lucy einen Briefwechsel begann, der sich schon bald zu einer lebenslangen Liebes- und Arbeitsbeziehung entwickeln würde.

Suzanne Malherbe arbeitete seit 1914 unter dem Künstlerinnen-Pseudonym Marcel Moore. Von ihr inspiriert, experimentierte Lucy mit verschienenen Namen. Von 1920 an nannte sie sich durchgängig Claude Cahun. Unter diesem Namen ist sie auch in der Fachwelt bekannt, während Suzanne Malherbe meist unter ihrem Geburtsnamen geführt wird.

Cahun studierte in Oxford und an der Pariser Sorbonne. Sie schrieb unter anderem über Oscar Wilde und übersetzte Werke von Havelock Ellis, der Homosexuelle als Drittes Geschlecht betrachtete – eine Position, die sich prominent und lesbisch unter anderem in Radcliffe Halls Klassiker Quell der Einsamkeit wiederfindet. Androgynie war ein großes und lebenslanges Thema für Cahun, das sie in zahlreichen ihrer Selbstporträts weiterentwickelt. In anderen Bildern stellt sie sich als Mann dar, in wieder anderen trägt sie ein Kleid. Die Dekonstruktion von Geschlecht nahm sowohl in ihrer schriftstellerischen Arbeit als auch in Fotografie, Collage und Objekt großen Raum ein.

In den 1920er Jahren schrieb Cahun für zahlreiche Magazine, darunter auch für L’Amitié, eine homosexuelle Rezensionszeitschrift. Sie fotografierte, neben anderen, Sylvia Beach, eine berühmte lesbische Migrantin und Besitzerin des englischsprachigen Buchhandlung Shakespeare and Company.

Ihr Feminismus zeigt sich explizit in ihrem Manuskript „Heroines“ von 1925, das erst 1999 wiederentdeckt und veröffentlicht wurde. Sie erfand darin Heldinnen um und gab ihnen neue, feministische und lesbische Leben:

„In Cahuns Version der Sappho fälscht die Dichterin den eigenen Selbstmord, indem sie eine Puppe die Felsen hinabstürzen lässt. Nachdem sie den Anschein erweckt hat, wegen unerwiderter Liebe zu einem Mann Selbstmord begangen zu haben, ist sie frei, ihre Liebe zu Frauen zu leben. Auf ähnliche Weise ermöglichte ihr „Soldat ohne Namen“ dem Paar ihre alltägliche Subversion, indem er effektiv ihre tatsächlich sehr prekäre Position als Lesben und avantgardistische Künsterinnen verdeckte.“
(Lizzie Thynne, 2010, S. 16, eigene Übersetzung)

Von 1917 bis 1937 lebten die Künstlerinnen gemeinsam in Paris. 1937 kaufte Claude Cahun, die über eigenes Vermögen verfügte, ein Haus auf der Kanalinsel Jersey. Dort lebten sie und Malherbe gemeinsam bis zu Cahuns Tod 1954.

Claude Cahun war Surrealistin, Performancekünstlerin, Dichterin. Sie dekonstruierte ihre Umwelt, andere Mitglieder der Pariser Surrealistenbewegung – und die Nazis. Sie dekonstruierte Gender und Sprache, Kunst und Politik. Sie dekonstruierte sich selbst und ihre Kunst. Und sie war politisch sehr aktiv in einer Umgebung, zu der unter anderem Tristan Tsara, Louis Aragon, André Breton gehörten. Cahun und Malherbe entwickelten gemeinsam eine Strategie, die ihre künstlerische Praxis mit ihren politischen Prinzipien der 1930er Jahre verband. Bei der Verfolgung dieser Prinzipien verbündeten sie sich in ihrem Widerstand gegen Faschismus und auch gegen Stalinismus mit Teilen der surrealistischen Bewegung. Die Linke schien für Cahun zunächst die einzige Bewegung zu sein, die den hitlerschen Rassismus effektiv bekämpfte, weil ihre Unterstützung der künstlerischen Ausdrucksfreiheit

„den Sieg von moralischer Freiheit und Menschenrechten, die jahrhundertelang von primitivem Aberglauben unterdrückt waren, und die für mich persönlich wichtig waren,“

gewährleisten würde. (zitiert nach Thynne, 2010, S. 3, eigene Übersetzung)

Letztlich zerbrach die gemeinsame Hitler-Gegnerschaft der Pariser Surrealistinnen und Surrealisten am Marxismus. 1935/36 war Cahun mit-Initiatorin der Gruppe Contre-Attaque, die sich explizit gegen Patriotismus jeder Art wandte, der lediglich „Marionetten des Imperialismus“ hervorbringe. Sie dagegen standen für Defätismus und für einen „aggressiven Pazifismus“, der sowohl die kolonialen „Demokratien“ als auch die remilitarisierte UdSSR ablehnte.

Bilder und Selbstinszenierungen von Claude Cahun:

In ihren Jahren auf Jersey setzten sich Claude Cahun und Suzanne Malherbe intensiv mit Formen des Widerstands gegen das Hitler-Regime auseinander, insbesondere nach der Besetzung Jerseys durch die deutsche Wehrmacht im Jahr 1940. Sie erfanden den „Soldaten ohne Namen“, der – gerade ganz anders als der unbekannte Soldat – konkret handeln sollte, durch Propaganda und Kunst. Ihr Vorgehen war durch und durch subversiv. Sie spielten mit vermeintlichen Gegensätzen wie jüdisch / arisch, männlich / weiblich und sie führten die totalitäre Sehnsucht nach klar definierten Grenzen ad absurdum.

„Die Intention der Gegen-Propaganda, die sie gemeinsam mit Moore produzierte, bestand gerade nicht darin, „die Feinde“ als bösartige Aggressoren darzustellen,  indem sie einfache binäre Gegensätze zwischen „uns“ und „denen“ verfestigten; vielmehr ging es darum, bei den Deutschen Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Kriegs zu fördern, insbesondere an Reih und Glied zu appellieren, ihren Führern zu widersprechen und Befehle nicht zu befolgen“,

schreibt Thynne. Die Künstlerinnen waren überzeugt, dass die Wehrmachtssoldaten in der Lage wären, ihre bisherigen Wahrheiten in Frage zu stellen:

„Insbesondere stellten Cahun und Moore fest, dass Respekt gegenüber Nazi-Autorität sehr effektiv durch Lachen abnimmt; Ironie und Humor waren ein Gräuel für das  buchstabengetreue und regelfixierte Denken ihrer Unterdrücker.“

Einer ihrer Flyer verballhornte den Slogan Kraft durch Freude zu Kraft durch Verzweiflung. Sie verwendeten einfache Ausdrücke und provozierten mehr als dass sie appellierten, Sabotage zu begehen, mit der Zeitverschwendung aufzuhören, langsamer zu arbeiten. Sie wollten die Soldaten ermuntern, ihre Rolle in dem Krieg ebenso in Frage zu stellen wie ihre Bereitschaft, für ihre mörderischen Führer zu sterben. Deutsche Gegenstände wurden ihres Zusammenhangs beraubt und rekontextualisiert.

Schließlich wurden Claude Cahun und Suzanne Malherbe, nach gut vier Jahren subversiver Künsterinnentätigkeit direkt unter der Nase der Faschisten, doch noch gefasst. Für die Wehrmachtsoffiziere war es schlicht unglaublich, dass ausgerechnet zwei Frauen hinter dem jahrelangen Widerstand steckten. Sie wurden zu neun Monaten und sechs Jahren Gefängnis wegen Besitzes eines Radios sowie wegen Ermunterung zur Tötung von Offizieren zum Tode verurteilt. Cahun hielt ihre subversive Haltung noch nach der Urteilsverkündung durch. Sie berichtete später:

„Und ich sagte, zusammenfassend, was bei ihnen einen weiteren Lachanfall auslöste, mit meiner vorgetäuschten Naivität, ’sollen wir die neun Monate und sechs Jahre absitzen, bevor wir erschossen werden?'“

(zitiert nach Thynne, S. 11, eigene Übersetzung)

Das Todesurteil wurde nicht mehr vollstreckt, sie wurden 1945 begnadigt und nach der Befreiung Jerseys aus der Haft entlassen. Nach dem Krieg waren beide weiterhin künsterisch tätig. Claude Cahuns Gesundheitszustand hatte unter den Haftbedingungen stark gelitten. Sie starb am 8. Dezember 1954 auf Jersey. Suzanne Malherbe überlebte sie um 18 Jahre, verkaufte das gemeinsame Haus, blieb aber auf Jersey. Die Lebensgefährtinnen sind im selben Grab beigesetzt.

In den 1990er Jahren wurde Cahuns Werk wiederentdeckt und gewann wegen seiner Relevanz für die aktuellen Diskurse über die Konstruktion von Gender und Identität neue Berühmtheit.

Links und Quellen:

  • Lizzie Thynne: Indirect Action: Politics and the Subversion of Identity in Claude Cahun and Marcel Moore’s Resistance to the Occupation of Jersey, surrealismcentre.ac.uk, 19.05.2010 (heruntergeladen am 24. Oktober 2011)
    alle Thynne-Zitate: eigene Übertragung ins Deutsche
  • Claude Cahun Self-portraits, Ausstellungs-Ankündigung, La Lettre de la photographie, 2011, lalettredelaphotographie.com (heruntergeladen am 24.10.2011)
  • Tirza Latimer: Acting out. Claude Cahun and Marcel Moore, queerculturalcenter.org (Download 24.10.2011)
  • Tee A. Corinne: Cahun, Claude (1894 – 1954), in: GLBTQ, An Encyclopedia of Gay, Lesbian, Bisexual, Transgernder, & Queer Culture, glbtq.com (Download 24.10.2011)
  • Wikipedia-Eintrag zu Claude Cahun
  • Bilder von Claude Cahun mit der Google Bildersuche