Jutta Oesterle-Schwerin wurde am 25.02.1941 in Jerusalem geboren. Sie steht für
die Sichtbarkeit von Lesben im Bundestag wie kaum jemand vor ihr oder nach ihr.
Politisch kommt Jutta Oesterle-Schwerin aus der Ostermarsch-, der Kinderladen-
und der Frauenbewegung. Sie lebt heute in Berlin.

Jutta Oesterle-Schwerin war vom 18. Februar 1987 bis zum 20. Dezember 1990 Abgeordnete für DIE GRÜNEN (ab 4. Oktober 1990 DIE GRÜNEN / BÜNDNIS 90) im Deutschen Bundestag in Bonn. In diesen knapp vier Jahren stand ihr Name unter 137 parlamentarischen Initiativen zur Gleichstellung von Frauen mit Männern, von
Lesben und Schwulen mit Heterosexuellen, von Unverheirateten mit Vereirateten sowie zahlreichen anderen Themenbereichen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verpassten bei der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 den Wiedereinzug ins Parlament. Jutta Oesterle-Schwerin war danach vielfältig politisch aktiv, unter anderem als Sprecherin des Lesbenrings.

Die Zeiten waren zäh. Helmut Kohl wurde als Bundeskanzler wiedergewählt, Bundestagspräsident Jenninger stolperte über seine Bemerkungen zur Reichspogromnacht. Von 1989 ist vielen nicht mehr in Erinnerung als die Deutsche Einheit – möglicherweise noch der Golfkrieg. Tatsächlich gab es jedoch sehr viel anderes Leben auf den Straßen und in den Parlamenten – nicht zuletzt lesbisch-feministisches Leben. Schleswig-Holstein richtete 1988 das erste eigenständige Frauenministerin mit Gisela Böhrk an der Spitze ein. DIE GRÜNEN etablierten sich. Und mit Jutta Oesterle-Schwerin kam 1987 eine offene, mutige, kämpferische Lesbe in den Deutschen Bundestag nach Bonn.

Jutta Oesterle-Schwerin war so präsent und aktiv, dass allein die reine Aufzählung ihrer Parlamentsinitiativen für lesbische und schwule Belange beeindruckend ist – ungeachtet all der Arbeit, die in den Ausschüssen, bei Terminen und Gesprächen und Reden schreibend im Büro dahintersteckt.

Abgeordnete im Deutschen Bundestag, 1987 bis 1990

Am 30. Oktober 1987 stellte Jutta Oesterle-Schwerin eine Kleine Anfrage „Diskriminierung von Lesben“, die von der Bundesregierung am 20. November 1987 beantwortet wurde (Bundestags-Drucksache 11/1272). Es ging um Diskriminierungen seitens der Deutschen Postreklame.

Zur Fragestunde im Bundestag am 20. Januar 1988 reichte Jutta Oesterle-Schwerin eine Frage „Abbau der rechtlichen Benachteiligung homosexueller und anderer nichtehelicher Lebensgemeinschaften“ ein, die von Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesjustizministerium beantwortet wurde (Bundestagsprotokoll Plenarprotokoll 11/54 20.01.1988 S. 3758B-3760B).

Anfang 1988 stellte sie eine Kleine Anfrage „Lebensformenpolitik unter besonderer Berücksichtigung von Alleinlebenden, schwulen, lesbischen sowie anderen nichtehelichen Lebensgemeinschaften und Wohngemeinschaften“, die von der Bundesregierung am 23. März 1988 beantwortet wurde (Bundestags-Drucksache 11/2044). Wer die Antworten der Bundesregierung liest erkennt sehr schnell die Bewegung, die seitdem in die Gleichstellungspolitik gebracht wurde. Von Diskrimierung konnte die Bundesregierung damals nichts berichten, eine Gleichstellung selbst in den allerbanalsten Bereichen erklärte sie für verfassungswidrig. Benachteiligungen von Lesben und Schwulen im Steuerrecht wurden schlicht für nicht existent erklärt.

Am 3. Februar 1988 stellte Jutta Oesterle-Schwerin in der Fragestunde des Bundestags eine Mündliche Anfrage zur „Homosexualität als Sicherheitsrisiko im öffentlichen Dienst“, die vom Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesinnenministerium Spranger beantwortet wurde (Bundestagsprotokoll Plenarprotokoll 11/57, 03.02.1988, S. 3939A-3942A).

Am 3. März 1988 fragte Jutta Oesterle-Schwerin in der Fragestunde des Bundestags nach dem „Urteil des Berliner Landgerichts über die Betreuung von Kindern durch männliche und weibliche Homosexuelle“. Die Frage wurde beantwortet vom Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Dr. Jahn (Bundestagsprotokoll Plenarprotokoll 11/64, 03.03.1988, S. 4404D-4405C).

Am 13. April 1988 fragte Jutta Oesterle-Schwerin in der Fragestunde des Bundestags nach der „Bedeutung sexueller Orientierung des Bewerbers um eine Pflegeerlaubnis für das Wohl des zu betreuenden Kindes“. Die Frage wurde beantwortet vom Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Dr. Jahn (Bundestagsprotokoll Plenarprotokoll 11/70, 13.04.1988, S. 4697B-4698C).

Am 18. Mai 1988 stellte Jutta Oesterle-Schwerin im Bundestag dem Parlamentarischen Staatssekretär Fragen zur Erpressbarkeit homosexueller Offiziere. Im Zentrum stand die Frage, ob ein Offizier ein Sicherheitsrisiko darstellt, wenn er wegen seiner Homosexualität erpresst wird. Die Abgeordnete Oesterle-Schwerin fragte eingehend nach, worin denn dieses Sicherheitsrisiko bestehen könnte, wenn der Offizier offen und öffentlich schwul lebt. Staatssekretär Spranger behauptete damals, Partner homosexueller Bediensteter würden nicht sicherheitsüberprüft, weil „eine eheähnliche Gemeinschaft nur angenommen wird, wenn zwischen einem Mann und einer Frau eine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft besteht“. (Bundestagsprotokoll, Plenarprotokoll 11/79 18.05.1988, Seite 5336D-5337D)

Am 18. Juni 1988 stellte Jutta Oesterle-Schwerin gemeinsam mit ihrer Fraktionskollegin Schmidt-Bott eine Große Anfrage zum Thema „Rosa Listen Beeinträchtigung des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung von Homosexuellen durch den Homosexuellen-Sonderparagraphen (§ 175 StGB) und die Sicherheitsrichtlinien (SiR)“, die vom Bundesinnenministerium am 5. April 1989 beantwortet wurde (Bundestags-Drucksache 11/4299) Die Bundestagsdebatte fand ein weiteres Jahr später statt, am 29. März 1990. Für DIE GRÜNEN sprach Jutta Oesterle-Schwerin (Bundestagsprotokoll Plenarprotokoll 11/204 29.03.1990 S. 16025A-16030C).

Ihr Einstieg:

„Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Guten Abend! Es ist spät geworden. Nach dem Motto „Je später die Stunden, desto schwuler die Themen“ debattieren wir heute zum zweiten Male innerhalb kurzer Zeit ein schwulenpolitisches Thema spät in der Nacht. Damit hat das Parlament die Chance vertan, mit dieser Debatte das gesellschaftliche Schweigen über die Gewalt gegen Schwule zu brechen und die Mißbilligung dieser Gewalt durch alle demokratischen Kräfte klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen. Die Tageszeit, zu der ein Thema hier im Bundestag behandelt wird, ist nicht unbedeutend. Sie ist Ausdruck für die Einstellung, die man in diesem Hause den Betroffenen gegenüber hat.“

Im Juli 1988 stellte Jutta Oesterle-Schwerin eine zweite Kleine Anfrage zur „Diskriminierung von Lesben durch die Deutsche Postreklame GmbH (II)“, die von der Bundesregierung am 11. August 1988 beantwortet wurde (Bundestags-Drucksache 11/2775)

Im September 1988 stellten die GRÜNEN Abgeordneten Petra Kelly, Jutta Oesterle-Schwerin und weitere eine Kleine Anfrage „Menschenrechtsverletzungen an Schwulen in Rumänien“, die vom Auswärtigen Amt am 18.1.1989 beantwortet wurde (Bundestags-Drucksache 11/3853).

Anfang 1989, im Lichte der Wörner-Kießling-Affäre, stellten DIE GRÜNEN Abgeeordneten Jutta Oesterle-Schwerin und Angelika Beer eine Große Anfrage zum Thema „Die sexuelle Denunziation von tatsächlichen oder vermeintlichen „Urningen“ als Mittel der politischen Auseinandersetzung“. Sie wurde vom Bundesjustizministerium am 30. Autust 1989 beantwortet (Bundestags-Drucksache 11/5107) und am 26. August 1989 im Bundestag diskutiert. Für DIE GRÜNEN sprachen Jutta Oesterle-Schwerin und Waltraud Schoppe (Bundestagsprotokoll Plenarprotokoll 11/171, 26.10.1989 S. 12920C-12929A).

Im Mai 1989 stellte Jutta Oesterle-Schwerin eine Kleine Anfrage „Abschiebung von  aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgten Asylbewerbern nach Pakistan“, die vom Bundesinnenministerium am 12. Juni 1989 beantwortet wurde (Bundestags-Drucksache 11/4726). Darin ging es um die Anerkennung von Schwulen und Lesben als Asylberechtigte im Sinne des Art. 16 Abs.2 Satz 2 GG, und um die Situation der Menschenrechte von Schwulen und Lesben in Pakistan.

Mitte 1989 stellte Jutta Oesterle-Schwerin eine Große Anfrage zum Thema „Zunehmende Gewalt gegen homosexuelle Männer und wirksame Wege ihrer Bekämpfung“. Sie wurde vom Bundesinnenministerium am 23.11.1989 beantwortet (Bundestags-Drucksache 11/5783) und am 29. März 1990 im Bundestag diskutiert. Für DIE GRÜNEN sprach Jutta Oesterle-Schwerin (Bundestags-Protokoll Plenarprotokoll 11/204, 29.03.1990 S. 16025A-16030C).

Anfang Juni 1989 stellten Jutta Oesterle Schwerin und die Fraktion DIE GRÜNEN eine Kleine Anfrage „Aberkennung der Gemeinnützigkeit von Vereinen aufgrund der Existenz einer Gruppe, die sich mit persönlichen und gesellschaftlichen Problemen von Homosexuellen befaßt, innerhalb der jeweiligen Vereine im Zusammenhang mit dem von der Bundesregierung eingebrachten Vereinsförderungsgesetz (Drucksache 11/4176)“, die vom Bundesfinanzministerium am 20. Juni 1989 beantwortet wurde (Bundestagsdrucksache 11/4827).

Im Juli 1989 stellte Jutta Oesterle-Schwerin eine Kleine Anfrage „Steuerrechtliche Berücksichtigung von Lebensgemeinschaften“, die vom Bundesfinanzministerium am 9. Auguts 1989 beantwortet wurde (Bundestagsdrucksache 11/5053). Darin ging es um die Nichteheliche Lebensgemeinschaften im Steuerrecht, um die Gleichbehandlung nichtehelicher Lebensgemeinschaften ohne/mit Kinder(n) bei der steuerrechtlichen Veranlagung, Kriterien für steuerrechtliche Auswirkungen, Unterscheidungen zwischen heterosexuellen und homosexuellen Lebensgemeinschaften sowie um eventuelle Rechtsänderungen.

Es folgten eine Reihe von Initiativen zu schwulen und lesbischen Eltern:

Im September 1989 stellte Jutta Oesterle-Schwerin gemeinsam mit Waltraud Schoppe eine Kleine Anfrage „Homosexualität bei Erziehungspersonen“, die vom Bundesjustizministerium am 19. Oktober 1989 beantwortet wurde (Bundestags-Drucksache 11/5412). Die Abgeordneten fragen nach elterlichem Sorgerecht, Adoptions-, Pflege- und Sorgerecht für Homosexuelle.

Die Kleine Anfrage der beiden Abgeordeneten Jutta Oesterle-Schwerin und Waltraud Schoppe „Die Bedeutung der sexuellen Orientierung der Eltern im Sorgerecht“ wurde vom Bundesjustizministerium am 19. Oktober 1989 beantwortet (Bundestags-Drucksache 11/5413). Schwerpunkte waren elterliches Sorgerecht, Sexualität, Gleichgeschlechtliche Lebensgefährten als Sorgerechtsinhaber sowie die aktuelle Meinung der Rechtsprechung.

Mit einer weiteren Kleinen Anfrage befragten beiden Abgeordeneten Jutta Oesterle-Schwerin und  Waltraud Schoppe im September 1989 die Bundesregierung über „Die Bedeutung der sexuellen Orientierung von Adoptiveltern“. Sie wurde vom Bundesjustizministerium ebenfalls am 19.10.1989 beantwortet (Bundestags-Drucksache 11/5414). Der Schwerpunkt lag auf dem Recht auf Adoption von Kindern durch schwule oder lesbische Lebensgemeinschaften, Novellierung der §§ 1741 und 1353 bis 1587 des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Beseitigung bestehender Ungleichbehandlungen.

Im September 1989 gehörte Jutta Oesterle-Schwerin zu den Urheberinnen einer Kleinen Anfrage zur „Situation der Menschenrechte von homosexuellen Männern in Mexiko“, die das Auswärtige Amt am 10. Oktober 1989 beantwortete (Bundestags-Drucksache 11/5368). Die Themen: Kenntnisse von Menschenrechtsverletzungen an homosexuellen Männern und Frauen in Mexiko, Stellungnahme der Bundesregierung gegenüber der mexikanischen Regierung, Asylgewährung aufgrund politischer Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland.

Am 22. November 1990 stellte Jutta Oesterle-Schwerin eine Kleine Anfrage „Abkehr von der Zwangsheterosexualität“ (Bundestags-Drucksache 11/8488), die wegen des Endes der Legislaturperiode (die Bundestagswahlen fanden am 2. Dezember 1990 statt) nicht mehr beantwortet wurde . Es ging um die Förderung lesbischer Existenz, gesetzliche Maßnahmen zur Abschaffung der Diskriminierung von Lesben: Gleichheit vor dem Gesetz, Erwerbsleben, Aufgabe der Jugendhilfe bei lesbischen Mädchen, Asyl für verfolgte Frauen, Datenschutz, Lesben im Strafvollzug, Vereinigungsfreiheit, gesetzliche Maßnahmen zum Schutz lesbischer Lebensgemeinschaften: Öffnung des sozialen Wohnungsbaus, Zusammenleben mit ausländischen Partnerinnen, Zeugnisverweigerungsrecht, Sperrzeiten für Arbeitslosengeld/Arbeitslosenhilfe und Erbrecht.

Jutta Oesterle-Schwerin war beteiligt an dem Gesetzentwurf der GRÜNEN „Gesetz zur strafrechtlichen Gleichstellung von Homo- und Heterosexualität“ vom 9. März 1989 (Bundestags-Drucksache 11/4153).

1988 war sie Mitunterzeichnerin einer Großen Anfrage von weiblichen Abgeordneten aller Fraktionen zu Menschenrechtsverletzungen an Frauen, die von der Bundesregierung am 2. November 1988 beantwortet wurde (Bundestags-Drucksache 11/3250  und Berichtigung Bundestags-Drucksache 11/3623).

Jutta Oesterle-Schwerin war vielfältig in der Lesbenbewegung aktiv. In diesem Beitrag geht es um ihre ganz besonderen Verdienste für die Sichtbarkeit von Lesben im Deutschen Bundestag. Lesbische Politik war damals auch bei den GRÜNEN keine Selbstverständlichkeit. Jutta Oesterle-Schwerin setzte sich unter anderem dafür ein, Volker Beck als Referenten für Schwulenpolitik in der Bundestagsfraktion zu engagieren. Sehr bald kam es zu Konflikten, als Volker Beck sich deutlich gegen die feministischen Ansätze in Oesterle-Schwerins Politik wandte. Strategisch wurden damals Weichen gestellt, die bis heute wirken, wenn es darum geht, über die alte Linie, bestehend aus Günter Dworek, Volker Beck und später Manfred Bruns schwulenpolitische Inhalte durchzusetzen. Welche Chancen politisch aktive Lesben innerhalb der GRÜNEN heute haben ist ein anderes spannendes Thema. Eine parlamentarische Sichtbarkeit, wie sie 1987 bis 1990 durch Jutta Oesterle-Schwerin repräsentiert wurde, haben Lesben danach weder bei den GRÜNEN noch bei einer anderen Partei erreicht.