Heute jährt sich der Tag, an dem Anna Rüling die erste bekannte lesbenpolitische Rede der Geschichte hielt: Am 9. Oktober 1904 sprach sie auf der Jahresversammlung des wissenschaftlich-humanitären Komitees im Berliner Hotel Prinz Albrecht über das Thema

„Welches Interesse hat die Frauenbewegung an der Lösung des homosexuellen Problems?“

Anna Rüling (auch: Anna Rühling, Th. Rüling) ist das Pseudonym von Theo Anna Sprüngli. Sie wurde am 15. August 1880 in Hamburg geboren und begann bereits mit 17 Jahren ihre journalistische Laufbahn. Neben zahlreichen journalistischen Veröffentlichungen in Zeitungen erschien von ihr um 1905 / 1906 der Novellenband „Welcher unter Euch ohne Sünde ist… Bücher von der Schattenseite“, der zwei schwule und drei lesbische Geschichten beinhaltet, zwei davon mit für diese Zeit ungewöhnlichem Happy End.

Sie war engagierte Feministin und engagierte sich in verschiedenen Frauenorganisationen. Geschichte schrieb sie jedoch mit ihrer Rede über Frauenbewegung und Homosexualität  beim wissenschaftlich-humanitären Komitee. Die Organisation wurde 1897 von den berühmten Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld gegründet und gilt als weltweit erste Homosexuellenorganisation. Mit ihrem Beitrag auf der Jahresversammlung 1904 brach Anna Rüling gleich mehrere Tabus: Sie bezeichnete sich selbst als homosexuell und sie stellte eine Verbindung zwischen Frauenbewegung und Homosexuellenbewegung her.

Kein Wunder, dass das zu erheblichem Ärger führte. Für ihre Rede wurde die junge lesbisch-feministische Aktivistin seitens des Bundes deutscher Frauenvereine scharf attackiert. Im wissenschaftlich-humanitären Komitee selbst führte die Rede ebenfalls zu großen Diskussionen. Grund dafür war weniger der Inhalt, der die meisten männlichen Mitglieder wahrscheinlich nicht interessierte, sondern die Tatsache, dass Rüling sich darin selbst als homosexuell darstellte. Das erschien den Herren nicht wissenschaftlich genug.

Ein Rückblick in Zitaten

Die damals 24jährige trat mit provozierenden Thesen auf. Sie beklagte,

„dass man im allgemeinen, wenn von Homosexuellen die Rede ist, nur an die urnischen Männer denkt und übersieht, wie viele homosexuelle Frauen es gibt, von denen freilich weniger geredet wird, weil sie – ich möchte fast sagen „leider“ – keinen ungerechten und aus falschen sittlichen Anschauungen hervorgegangenen Strafgesetzparagraphen zu bekämpfen haben.“

Frauenbewegung und Homosexuellenbewegung waren für sie untrennbar verbunden:

„Die Frauenbewegung erstrebt die Anerkennung der lange missachteten Frauenrechte; sie kämpft namentlich für möglichste Selbständigkeit und rechtliche Gleichstellung der Frau mit dem Manne innerhalb und außerhalb der Ehe. (…) Die Stellung und Anteilnahme der homosexuellen Frauen in der Frauenbewegung zu und an einem ihrer wichtigsten Probleme ist von größter und einschneidendster Bedeutung und verdient die allgemeinste und weitgehendste Beachtung.“

Um so ungerechter bewertete sie die Ignoranz der Frauenbewegung gegenüber lesbischen Frauen:

„Wenn wir alle Verdienste, die sich homosexuelle Frauen seit Jahrzehnten um die Frauenbewegung erworben haben, betrachten, so muss es sehr erstaunen, dass die großen und einflussreichen Organisationen dieser Bewegung bis heute keinen Finger gerührt haben, der nicht geringen Anzahl ihrer urnischen Mitglieder ihr gutes Recht in Staat und Gesellschaft zu verschaffen, dass sie nichts, aber auch gar nichts getan haben, um so manche ihrer bekanntesten und verdientesten Vorkämpferinnen vor spott und Hohn zu schützen, indem sie die breiterte Öffentlichkeit über das wahre Wesen des Uranismus aufklärten. (…) Ich kenne den Grund für diese vollständige, – bei der Frauenbewegung, die sonst sogar rein geschlechtliche Dinge mit seltener Freimütigkeit und Sachlichkeit behandelt – doppelt auffallende Zurückhaltung sehr wohl.  Er besteht in der Furcht, die Bewegung könne sich durch Anschneiden der homosexuellen Frage, durch energische Vertretung des Menschenrechtes der Uranier in den Augen der noch blinden und unwissenden Menge schaden. (…) Heute aber, wo die Bewegung unaufhaltsam fortschreitet, wo keine bürokratische Weisheit, keine Philisterei ihren Siegeszug mehr hemmen kann, heute muss ich das völlige Beiseitelassen einer zweifellos recht wichtigen Frage doch als ein Unrecht bezeichnen, als ein Unrecht, das die Frauenbewegung nicht zum geringen Teile sich selber zufügt.“

Ihre Forderung: Solidarität

„Ohne Zweifel, hat die Frauenbewegung größere und wichtigere Aufgaben zu erfüllen als die Befreiung der Homosexuellen, – aber großen Aufgaben kann sie nur gerecht werden, wenn sie kleinere nicht achtlos beiseite lässt.
Die Frauenbewegung (…) braucht nichts weiter zu tun, als der homosexuellen Frage den gebührenden Platz einräumen, wenn sie über die geschlechtlichen, ethischen, wirtschaftlichen und rein menschlichen Beziehungen der Geschlechter zueinander spricht. Das kann sie; und damit kann sie auch langsam und ohne viel Geschrei aufklärend wirken.“

„Die Frauenbewegung kämpft für das Recht der freien Persönlichkeit und der Selbstbestimmung. Sie muss sich also sagen, dass der ächtende Bann, den die Gesellschaft heute noch auf die Uranier schleudert, dieses Recht unterdrückt, und dass es somit ihre Pflicht ist, den Homosexuellen im Kampfe beizustehen, gerade wie sie den unehelichen Müttern, den Arbeiterinnen und vielen andern mehr hilfreich und tatkräftig zur Seite steht in ihrem Kampfe um Freiheit und Recht, ihn ihrem Kampfe um altüberlieferte falsche Meinungen von einer Sittlichkeit, die eigentlich Unsittlichkeit ist, von einer Moral, sie beim Lichte sich als schlimmste Unmoral erweist.“

Der Schlüssel zur Gleichstellung war – für lesbische wie für heterosexuelle Frauen gleichermaßen – Zugang zu Bildung und Beruf:

„Um nun aber den Homosexuellen und überhaupt allen Frauen die Möglichkeit zu verschaffen, ihrer Natur entsprechend leben zu können, ist es durchaus notwendig, den Bestrebungen der Frauenbewegung sich tatkräftig anzuschließen, die den Frauen erweiterte Bildungsmöglichkeiten und neue Berufe öffnen wollen.“

Immer wieder betonte sie die große Bandbreite von Eigenschaften, die Männer wie Frauen haben können, ob homo- oder heterosexuell:

„Die Mischungsverhältnisse der männlichen und weiblichen Eigenschaften im Menschen sind so unendlich verschieden, dass es ein Erfordernis einfachster Gerechtigkeit ist, jedes Kind – ob männlich oder weiblich gilt gleich – zur Selbständigkeit zu erziehen. Der erwachsene Mensch wird dann selbst entscheiden müssen, ob ihn seine Natur ins Haus oder in die Welt, ob in die Ehe oder zur Ehelosigkeit treibt. (…) Wieder sind es die Eltern, die eine heilige Pflicht darin sehen sollten, jedem Kinde nach seiner Individualität gerecht zu werden und unter allen Umständen ein schablonenhaftes Erziehungssystem zu vermeiden.“

Wichtig war Rüling die Unterscheidung zwischen „Persönlichkeit im allgemeinen“ und „sexueller Veranlagung“:

„Während bei dem ausgesprochen heterosexuellen Weibe das Gefühl fast immer – Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel – vorherrschend und ausschlaggebend ist, überwiegt bei der Urninde meist der klar blickende Verstand. Sie ist, wie im Durchschnitt der normale Mann, objektiver, energischer und zielbewusster als das weibliche Weib, ihre Gedanken und Empfindungen sind die des Mannes, sie ahmt den Mann nicht nach, sie ist veranlagt wie er, dies ist der entscheidende springende Punkt (…). Ich möchte an dieser Stelle bemerken, dass es eine absolute und eine nur psychische Homosexualität gibt, dass als männliche Charaktereigenschaften nicht unbedingt einen sexuellen Trieb zum eigenen Geschlecht im Gefolge haben müssen; denn jeder Urninde sind naturgemäß auch mehr oder weniger zahlreiche weibliche Züge eigen, die sich bei den ungeheuer verschiedenen Gradabstufungen in den Übergängen zwischen den Geschlechtern auch wohl einmal im sexuellen Trieb zum Manne äußern können.“

Ihre Rede schloss sie mit den Worten:

„Nicht heute oder morgen, aber in einer nicht all zu fernen Zukunft werden Frauenbewegung und Uranier ihre Fahnen am Ziele aufpflanzen!
Per aspera ad astra!“

Eine ganze Anzahl der Forderungen, die die junge Theo Anna Sprüngli als Anna Rüling erhoben hat, sind heute ebenso aktuell wie damals. Zur Pionierin der Lesbenbewegung kann Theo Anna Sprüngli dennoch nicht unkritisch erhoben werden: Sie war, wie Christiane Leidinger scheibt, „glühende deutsche Patriotin, Nationalistin und Kriegsbefürworterin“ und engagierte sich bereits im Kaiserreich für nationalistische Frauenorganisationen. Wenngleich sie vermutlich nicht Mitfrau der NSDAP war, gehörte sie als Publizistin dem Reichsverband Deutscher Schriftsteller an. Nach dem Ende des Nationalsozialismus arbeitete sie am Stadttheater in Ulm und war später wieder als Journalistin tätig. Am 8. Mai 1953 starb sie im Alter von 73 Jahren in Delmenhorst.

Links und Quellen: 

  • Anna Rü(h)ling: Welches Interesse hat die Frauenbewegung an der Lösung des homosexuellen Problems?, in: Ilse Kokula: Weibliche Homosexualität um 1900 in zeitgenössischen Dokumenten, München, Frauenoffensive, 1981, S. 191-211
  • Text der Rede von Anna Rüling bei angelfire.com (Download 9.10.2012)
  • Christiane Leidinger: Eine zwiespältige Ahnin. Die Journalistin Theo Anna Sprüngli (1880-1953) – besser bekannt als Rednerin Anna Rüling, lesbengeschichte.de, Berlin 2005 (Download 9.10.2012)
  • Kurzbiografie beim Berliner Lesbenarchiv Spinnboden, spinnboden.de (Download 9.10.2012)
  • Sabine Hark: „“ – Zur Sexualpolitik der bürgerlichen Frauenbewegung im Deutschland des Kaiserreichs. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, Heft 25/26, 1989, S. 19–27
  • Die Redewendung per aspera ad astra bei Wikipedia