5 Vorstellung der Romane, der Autorinnen und ihrer Protagonistinnen
Im folgenden Kapitel werden die in dieser Arbeit zu untersuchenden Romane vorgestellt. Begonnen wird mit Joanna Russ‘ The Female Man, dem frühesten der drei Werke. 1969 geschrieben, zeichnet es ein beklemmendes Bild der Situation von Frauen in den USA der sechziger Jahre, läßt dabei jedoch Hoffnung auf individuelle und politische Befreiung erkennen. Auf dem Höhepunkt der neuen Frauenbewegung, 1976, ist Marge Piercys Woman on the Edge of Time erschienen. Wie Russ schildert auch Piercy die gegenwärtige Situation von Frauen in den dunkelsten Farben, stellt dem bedrückenden Dasein aber deutlicher die Vision einer glücklicheren Zukunft gegenüber. Suzette Haden Elgins bislang zweibändiger Roman Native Tongue (1984/1987) spiegelt wachsenden Pessimismus der achtziger Jahre wider und stellt die Notwendigkeit persönlichen und organisierten Widerstandes in den Vordergrund.
Nach einem kurzen biographischen Überblick wird eine Zusammenfassung des jeweiligen Werkes erfolgen, bevor schließlich die Protagonistinnen vorgestellt werden. Herauszufinden, welche der starken weiblichen Personen im Roman die Protagonistin ist und welcher oder welchen anderen doch eher eine Nebenrolle zukommt, war nicht immer problemlos, wie auch anhand der Sekundärliteratur festzustellen ist, in der teilweise widersprüchliche Angaben gemacht werden[134]. Die Utopiedefinition aus Kapitel 2.1 zugrunde legend, wird in dieser Arbeit als Protagonistin im Zweifelsfall immer diejenige der Dystopie bezeichnet, da es ihre Aktivität ist, die schließlich zur utopischen Gesellschaft führt.
5.1 Joanna Russ: The Female Man
Joanna Russ wurde am 22. Februar 1938 in New York City geboren. Nach Abschluß ihrer Ausbildung an der Yale University School of Drama in New Haven, Connecticut im Jahr 1960 war sie zunächst als Lektorin, später als Assistenzprofessorin und schließlich , seit 1984, als Professorin für Englisch tätig. Sie lehrt an der University of Washington in Seattle[135].
Die erste einer Reihe von Kurzgeschichten, die Russ verfaßte, Nor Custom Stale, erschien 1959 in Fantasy and Science Fiction. Seitdem hat sie eine große Zahl von Kurzgeschichten und Romanen veröffentlicht. Snyder faßt ihr Werk zusammen:
„While Russ identifies herself primarily as a feminist, she is equally well known for her experimental way of handling the conventional materials and narrative strategies of science fiction. Since Russ is opposed to all social fixities and intellectual givens, her major effort as a science-fiction writer has been to explore alternate realities and create new myths, especially ones that depict women as complex human subjects.“[136]
Russ gewann eine Reihe von Science Fiction Preisen, darunter den Nebula Award 1972 und 1983, den Hugo Award 1983 und den Locus Award 1983.
In The Female Man, 1969 geschrieben, treffen verschiedene Welten aufeinander, die jeweils durch eine Frau repräsentiert werden. Der Roman basiert auf einer Parallelwelt-Konstruktion: Handlungen bestimmen unmittelbar die Entwicklung der Zukunft; je nachdem, wie agiert wird, bilden sich zwei oder mehr Wirklichkeiten heraus, die gleichzeitig existieren[137]. Die vier Welten sind bei Russ zeitlich und räumlich getrennt; zwei von ihnen sind in der Gegenwart des zwanzigsten Jahrhunderts angesiedelt, zwei weitere in der Zukunft. Zeitreise ist möglich, jedoch nur diagonal: keine kann in ihre eigene Vergangenheit reisen, weil sie sonst Gefahr laufen würde, ein Zeitparadoxon zu verursachen. Die Erzählerin Joanna lebt 1969 in den USA, wie wir sie kennen. Dieser Wirklichkeit sehr nahe kommt Jeannines Welt: hier hat der zweite Weltkrieg nicht stattgefunden, und die Wirtschaftskrise ist nicht überwunden worden. Janet besucht die Welten Jeannines und Joannas im Rahmen eines Forschungsprojekts, das von ihrer Welt Whileaway ausgeht. In Whileaway wurden die Männer lange Zeit zuvor durch eine Seuche ausgerottet, so daß Janet auf die Tradition einer neunhundertjährigen reinen Frauengesellschaft zurückblicken kann. Jaels Welt ist in ein Land der Frauen und eines der Männer aufgespalten, die sich heftig bekriegen.
The Female Man ist als Montageroman geschrieben[138]. Kurze Episoden unterschiedlichster Art folgen dicht aufeinander: Dialoge, Ich-Erzählungen verschiedener Personen, Aufzählungen, Zitate und anderes mehr, bis sich schließlich die Aufzählung von Handlungssträngen entwirrt, als die vier Frauen nach und nach aufeinandertreffen[139]. Das Buch handelt von den Auseinandersetzungen der vier Frauen mit den eigenen Vorstellungen vom Dasein als Frau und denen der jeweils anderen. Die utopische Gesellschaft des Romans ist Janets Whileaway, eine ausschließlich aus Frauen bestehende Gesellschaft, die sich mittels Verschmelzung weiblicher Eizellen reproduziert. Warum sie eine separatistische Frauengesellschaft gewählt hat, erklärt Russ 1975:
„Ich kann mir keine Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern in der Gesellschaft vorstellen, und ich glaube, das kann wohl niemand. (…) Wo sonst (außer in Science Fiction) könnten solche Visionen ausprobiert werden? Doch wir werden Modelle für die Wirklichkeit haben müssen, wenn ich auch noch keine gefunden habe. Deshalb ist Whileaway nur von einem Geschlecht bevölkert.“[140]
Der Roman beginnt damit, daß Janet sich in einer Ich-Erzählung selbst vorstellt:
„I was born on a farm on Whileaway. (…) My mother’s name was Eva, my other mother’s name Alicia; I am Janet Evason.“ (Russ, 1985, S. 1)[141]
„I love my daughter. I love my family (there are nineteen of us). I love my wife (Vittoria). I’ve fought four duels. I’ve killed four times.“ (Russ, 1985, S. 2)
Als nächstes wird Jeannine vorgestellt. Ihr erster Ausspruch im Text lautet: „I don’t believe it“, was sie zweimal wiederholt (Russ, 1985, S. 2/3). Jeannine arbeitet als Bibliotheksangestellte und ist wesentlich damit beschäftigt, Bücher zu stempeln.
Sie ist zwar mit der Zukunft, die ihr von allen Seiten nahegelegt wird, nämlich zu heiraten, unzufrieden, paßt sich jedoch, wie erwartet, an. Ihre Welt ist die der Cary Grant-Filme der vierziger und fünfziger Jahre:
„I enjoy being a girl, don’t you? I wouldn’t be a man for anything; I think they have such a hard time of it. I like being admired. I like being a girl. I wouldn’t be a man for anything. Not for anything.“ (Russ, 1985, S. 86)
Joanna, in wesentlichen Teilen des Romanes die Ich-Erzählerin, ist Englischdozentin. Auch sie stellt sich selbst vor:
„When Janet Evason returned to the New Forest and the experimenters at the Pole Station were laughing their heads off (for it was not a dream) I sat in a coktail Party in mid-Manhattan. I had just changed into a man, me, Joanna. I mean a female man, of course; my body and soul were exactly the same.
So there’s me also.“ (Russ, 1985, S. 5)
Die letzte der vier Js, die Attentäterin Jael, lebt in einer dystopischen Gesellschaft, in der ständig Krieg mit den Manlanders herrscht. Sie taucht zu Beginn des Romans kurz auf, wirkt jedoch sehr planlos und verabschiedet sich gleich wieder mit den Worten „You’ll meet me later“ (Russ, 1985, S. 19). Später, als Jeannine, Janet und Joanna zusammensitzen, gesellt sie sich zu ihnen:
„I am called Alice Reasoner,(…) christened Alice-Jael; I am an employee of the Bureau of Comparative Ethnology. My code name is Sweet Alice; can you believe it? (…) Look around you and welcome yourselves; look at me and make me welcome; welcome myself, welcome me, welcome I.“ (Russ, 1985, S. 158/159)
Für Moylan ist der Roman
„eine einzige lange Begegnung der vier Protagonistinnen (…), die verschiedene Aspekte des weiblichen Ichs darstellen.“[142]
Bartkowski verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff cluster protagonist[143]:
„These characters with female names are more than themselves and parts of each other; women at a number of the edges of time, they form multiple, collective protagonists.“[144]
Diese Auffassung wird von Barnouw geteilt, die in den vier Js ebenfalls Aspekte derselben Person sieht:
„Die sozial verursachte weibliche Persönlichkeitsspaltung wird durch diese Koordination der Perspektiven konkret.“[145]
Während zu Beginn des Romans erhebliche Unterschiede zwischen den vier J’s bestehen, überwiegen gegen Ende des Romans doch die Gemeinsamkeiten ihres Daseins als Frauen[146]. The Female Man hat kein Ende in dem Sinn, daß ein Prozeß ein Ergebnis irgendeiner Art hervorgebracht hätte. Gegen Ende des Romans verabschieden die vier Js sich voneinander, nachdem sie zusammen Mittag gegessen haben:
„I said goodbye and went off with Laur, I, Janet; I also watched them go, I, Joanna; moreover I went off to show Jael the city, I Jeannine, I Jael, I myself.
Goodbye, goodbye, goodbye.“ (Russ, 1985, S. 212)
Anschließend verabschiedet sich Joanna noch im Geiste von den drei anderen Js und schickt ihr Buch auf die Reise: „For on that day, we will be free.“ (Russ, 1985, S. 214)
5.2 Marge Piercy: Woman on the Edge of Time
Marge Piercy wurde am 31. März 1936 in Detroit, Michigan geboren. Nach ihrer Ausbildung in Michigan und Illinois war sie in verschiedensten politischen Zusammenhängen aktiv. Sie begann bereits während ihres Studiums, Gedichte zu schreiben und gewann mehrere Literaturpreise. Ihr literarisches Werk besteht aus einer großen Anzahl von Gedichten und Romanen, von denen jedoch nur drei der Science Fiction oder Utopie zuzuordnen sind. Über ihre eigene Arbeit schreibt sie:
„Writing politically, writing as a feminist, writing as a serious woman, doesn’t mean writing comic books and calling them novels. (…) Our writers must tell us stories and create us characters that have more truth in them than wishes – stories that have enough grit and power to wound as well as to please.“[147]
In Woman on the Edge of Time, 1976 erschienen, geht es um den Gegensatz zwischen der für die Leserin durchaus realen US-amerikanischen Gesellschaft der siebziger Jahre und einer Alternativgesellschaft, die sich nach langem Krieg aus Bürgerrechtsbewegungen entwickelt hat. Die neue Gesellschaft ist öko-anarchistisch organisiert. Gegenübergestellt werden die Gesellschaftssysteme durch zwei Frauen, die in der Lage sind, miteinander in mentalen Kontakt zu treten. Die Gesellschaft der Zukunft wird am Beispiel des Dorfes Mattapoisett im Jahre 2237 dargestellt. In Mattapoisett ist das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft; dies betrifft auch die Reproduktion der Gesellschaft: Kinder werden künstlich aus einem zur Verfügung stehenden Genpool erzeugt und anschließend ihren Bezugspersonen zugeteilt. Männer und Frauen leben gleichberechtigt miteinander; weder heterosexuelle noch homosexuelle Beziehungen sind in irgendeiner Weise diskriminiert. Dagegen steht die Gesellschaft der USA: repressiv, rassistisch, sexistisch.
Piercys Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen und die konsequente Umsetzung der sich daraus ergebenden Forderungen orientieren sich stark an Firestones Frauenbefreiung und sexuelle Revolution. Eine der Kernthesen Firestones besteht darin, daß Frauenunterdrückung wesentlich auf der Reproduktionsfähigkeit von Frauen basiert[148] und daß diese wiederum die Kinder in Hinblick auf ihre gesellschaftliche Rolle prägt:
„Der beste Weg, ein Kind zu erziehen, ist, es in Ruhe zu lassen.“[149]
Beide Forderungen werden in Mattapoisett beispielhaft erprobt[150].
Consuelo Ramos (Connie), die Protagonistin des Romans, befindet sich zunächst in New York City im Jahr 1976. Sie
„wird mehrfach unterdrückt: weil sie eine Frau und alleinerziehende Mutter ist, weil sie mexikanischer Herkunft, arm und erwerbslos ist und das medizinische Establishment sie als ‚psychotisch‘ gebrandmarkt hat.“[151]
Sie verliert ihr Kind dadurch, daß es zur Adoption freigegeben wird. Später wird sie in Folge einer Auseinandersetzung mit dem Zuhälter ihrer Nichte in eine psychiatrische Klinik eingewiesen:
„Kurz gesagt, Connie ist eine gesunde Frau, die verrückt ‚gemacht‘, eine Überlebende, die zum Opfer degradiert wird.“[152]
Im Verlauf ihres Aufenthaltes in der Psychiatrie entwickelt Connie Überlebensstrategien. Luciente, Bewohnerin des utopischen Dorfes Mattapoisett, nimmt kurz vor Connies Einweisung Kontakt zu ihr auf. Dies wird dadurch ermöglicht, daß die Menschen der Zukunft mentale Fähigkeiten hoch entwickelt haben und daß Connie, ohne es vorher gewußt zu haben, eine Empfängerin ist, so daß Luciente sie durch die Zeit erreichen kann. Luciente wird in der Folgezeit Connies Führerin und Mentorin in Mattapoisett.
Luciente kann im Roman durchaus die Funktion haben darzustellen, welche Möglichkeiten Connie in der Zukunft haben könnte. Moylan sieht Luciente als Connies „utopisches Pendant“[153]. Äquivalent dazu stellt Devine fest, daß die Personen der Zukunft im Verlauf des Romans Projektionen von Connies Bekannten der Gegenwart werden:
„These projections serve to motivate Connie to assure her own existence and that of her loved ones in the future Mattapoisett condition, by focusing her aggression and rebellion to strike at the heart of her situation.“[154]
Connie erlebt im Verlauf des Romans einmal versehentlich eine andere Zukunftsversion: die Frauen sind reine Sexualobjekte, und wenn sie in dieser Funktion nicht mehr erwünscht sind, lebende Organbanken; die Umwelt ist zerstört und die Superreichen beherrschen die Erde. Diese Erfahrung, kombiniert mit der Vision einer möglichen besseren Welt in Mattapoisett, bringt Connie zu einem verzweifelten Schritt: sie vergiftet ihre Ärzte, bevor diese sie endgültig zerstören. Dadurch gewinnt und verliert sie gleichzeitig: sie gewinnt, weil sie den Schritt gewagt hat, aus ihrer hoffnungslosen Lage heraus Widerstand zu entwickeln; sie scheitert, weil sie von nun an den Rest ihres Lebens im Psychopharmakarausch in einer geschlossenen Anstalt verbringen wird.
Connie ist eine nicht nur positive Protagonistin, sie wirkt mitunter unsympathisch,
„weil sie die Rolle des Opfers so widerstandslos annimmt, weil all ihre Überlebenstechniken sich auf diese Rolle beschränken.“[155]
Eine ambivalente oder ablehnende Einstellung ihrer Protagonistin gegenüber ist von Piercy jedoch durchaus gewollt:
„The novelist may even seduce the reader into identifying with characters whom he or she would refuse to know in ordinary life. Very few people who read my novel Woman on the Edge of Time would have anything to do with the protagonist – a middle-aged, overweight Chicana defined as crazy, shabbily dressed, lucky to get off welfare and into a mopwoman’s job.“[156]
Insgesamt ist Connie jedoch eine sympathische Protagonistin. Sie hält zu Menschen, die sie mag, ist solidarisch mit den anderen Patienten und Patientinnen in der Psychiatrie, hält gegen alle Schwierigkeiten ihre Sozialbeziehungen zusammen und ist bereit, ihre Interessen und die ihrer Bekannten gegen die Mächtigen zu vertreten.
5.3 Suzette Haden Elgin: Native Tongue
Suzette Haden Elgin, geboren am 18. November 1936 in Lousiana, Missouri, ist Sprachwissenschaftlerin. Sie absolvierte ihre Ausbildung an der University of Chicago, an der California State University in Chico und an der University of California in San Diego. Sie war jahrelang als Musik- und Französischlehrerin tätig, bis sie schließlich zuerst Associate Professor, dann Assistenzprofessorin für Sprachwissenschaft an der San Diego State University wurde[157]. Von ihr sind mehrere sprachwissenschaftliche Bücher erschienen. Elgin schreibt über ihre schriftstellerische Tätigkeit:
„I plot a book down to the most minute detail in advance, filling notebooks with maps, biographies, every conceivable sort of information I might need in the book about its culture and characters. (…) I don’t believe in inspiration, I believe in hard work.“[158]
Elgins erster Science Fiction Roman, The Communipaths, wurde 1970 veröffentlicht. Er ist der erste Teil einer Trilogie über den Tri-galaktischen Superagenten Coyote Jones. Wie auch ihre folgenden Bücher, behandelt The Communipaths Fragestellungen, die mit Sprache zusammenhängen. Die in dieser Arbeit behandelten Bücher, Native Tongue und The Judas Rose (1984 bzw. 1987 im Original erschienen) sind die ersten beiden Teile einer neuen Serie, die bislang nicht abgeschlossen ist.
Native Tongue spielt etwa 170 Jahre in der Zukunft. Ende des zwanzigsten Jahrhunderts werden den Frauen, um sie vor „Überforderung“ und „Unweiblichkeit“ zu schützen, die bürgerlichen Rechte aberkannt. Da die Supermächte der Erde zwischenzeitlich durch die Entwicklung der Raumfahrt Kontakte zu Aliens aufgenommen haben[159], können sich die Linguisten-Linien entwickeln: Großfamilien, die sich darauf spezialisiert haben, die Sprachen humanoider Aliens zu lernen, und deren Angehörige für die Regierung als Übersetzer oder Übersetzerinnen tätig sind. Native Tongue und The Judas Rose handeln im wesentlichen von den Frauen der Linguisten-Linien und ihrem subtilen Widerstand gegen die Übermacht der Männer. Von der Außenwelt weitgehend isoliert und zeitlich durch ihre Arbeit und die Pflicht, möglichst viele Kinder zu gebären, in Anspruch genommen, sind ihre Möglichkeiten jedoch eingeschränkt.
Die Frauen der Linien vertreten die im 22. Jahrhundert verpönte Auffassung, Sprache könne die Gesellschaft verändern, und so entwerfen sie als professionelle Linguistinnen die Frauensprache Láadan, die im Gegensatz zum üblichen Standard-Panglish in der Lage ist, Meinungen, Schwerpunkte und Gefühle auszudrücken. Ihr Widerstand ist eher passiv als aktiv: indem sie so zuvorkommend und höflich zu den Männern sind, daß diese sie nicht mehr ertragen können, erreichen sie, daß zusätzlich zu den bereits bestehenden Barren Houses Frauenhäuser für alle Frauen errichtet werden. Sie hoffen, durch gutes Beispiel Vorbilder abgeben zu können. Im Verlauf des Romans gelingt es ihnen mit herausragender Strategie und etwas Glück , die katholische Kirche zu unterwandern und über die Nonnen das Láadan intergalaktisch zu verbreiten.
Elgin vezichtet auf die Darstellung einer utopischen Gesellschaft. Daß die Bemühungen der Frauen der Linien Erfolg haben werden, ist der Leserin jedoch bekannt, weil die Publikation des Buches in ferner Zukunft durch einer Vertreterin von WOMANTALK, Earth Section, Patricia Ann Wilkins, erfolgt[160]. Die Utopie mag zwar bei einzelnen Frauen des Romans als Vision existieren; im Vordergrund steht jedoch der Weg dorthin: der Wille, den derzeitigen dystopischen Zustand zu überwinden, und sei es in ganz kleinen Schritten.
Drahtzieherin dieser Aktivitäten ist Nazareth Joanna Chornyak Adiness. Bereits als Kind entwarf sie semantische Codierungen, die in der Folge wesentlich zur Entwicklung des Láadan beitrugen. Mit fünfzehn Jahren wird sie an einen Mann verheiratet, den sie haßt. Ihr Vater erhofft sich von dieser Heirat jedoch, daß der Haushalt durch weitere Alien-Sprachen bereichert wird und daß die Kombination der Gene des Mannes mit denen Nazareths erfolgreich ist. Nachdem sie neun Kinder geboren und eine Brust- und Unterleibskrebsoperation hinter sich hat, zieht Nazareth endlich ins Barren House. Hier beginnt ihre Laufbahn als Strategin und Organisatorin des Widerstands. Sie organisiert die Verbreitung des Láadan und erreicht auf subtile Weise Vergünstigungen für die Frauen.
Im zweiten Buch des Romans, The Judas Rose, sind die Frauen der Linguisten-Linien zwar nach wie vor rechtlos, verfügen jedoch im Gegensatz zu ihren Schwestern außerhalb der Linien über funktionierende Frauengemeinschaften. Indem neun junge Frauen sich mit Hilfe ihrer verheirateten Verwandten künstlich befruchtet haben, gebären sie im Nonnenkloster und halten mit den dort verbleibenden Kindern insgeheim regen Kontakt.
Als die katholische Kirche versucht, eine von den Linguistinnen angefertigte Bibelübersetzung zum Zwecke der Rekrutierung weiterer weiblicher Gläubiger zu nutzen, bekommt die Nonne Miriam Rose, eines der im Kloster geborenen Kinder, aufgrund ihrer vermeintlichen Sprachbegabung (die in Wirklichkeit vom Üben mit der Mutter herrührt) die Aufgabe zugewiesen, die Texte zu überarbeiten. Nazareths Plan geht auf: den Nonnen gelingt es, das Láadan über die Galaxis zu verbreiten. Als die katholische Kirche Jahrzehnte später erfährt, daß Miriam Rose eine Verräterin war (Judas Rose), ist es zu spät. Die Situation in den Linguistenfamilien ist zu diesem Zeitpunkt bereits so entspannt, daß Nazareth sich mit dem Familienoberhaupt, einem ihrer Enkel, über den gelungenen Coup herzlich freuen kann.
Elgins Nazareth ist stärker als Piercys Connie oder Russ‘ Joanna/Janet/Jeannine/Jael in die sie umgebende Gesellschaft eingebunden und kaum unabhängig von ihr zu betrachten. Der Schwerpunkt des Romans liegt eindeutig auf der Solidarität der Frauen, nicht auf Aktivitäten von Einzelkämpferinnen.
>> weiter zu Teil 6 – Gesellschaft und Widerstand
[134] vgl. beispielsweise Holland-Cunz, 1988, S. 317 versus Moylan, 1990, S. 155
[135] biographische Daten vgl. Snyder, 1991, S. 678 f
[136] Snyder, 1991, S. 679
[137] zur Definition vgl. Stableford, 1981. Der Gleichzeitigkeit von Parallelwelten, die in der Regel in der Lage sind, miteinander in Kontakt zu treten, steht das Konzept der Alternativwelten gegenüber. Diese basieren auf einen was-wäre-wenn-Entwicklung: Wenn eine bestimmte Handlung erfolgt, entsteht Gesellschaft „X“, bei einer bestimmten anderen Handlung Gesellschaft „Y“. (S. 26 f/447 f)
[138] vgl. Moylan, 1990, S. 92 ff
[139] Bartkowski unterschiedet grundsätzlich zwischen der klassischen Erzählung, die in einer festgelegten Gegenwart stattfindet und der biblischen epischen Form, die gleichzeitig verschiedene historische Ebenen und Bewußtseinsebenen umschließt. In Hinblick auf The Female Man schreibt sie: „Russ fuses these two epic modes of representation in the four female characters who populate the novel, each appearing with attentive description of external historically indicative details; they are brought together to create the effect of a multiplicity of female histories and narratives.“ (Bartkowski, 1991, S. 50)
[140] Russ, zitiert nach Farley, 1986, S. 193/194
[141] Da von den drei Autorinnen der untersuchten Romane auch Sekundärliteratur verwendet wird, werden, um Verwirrungen zu vermeiden, Zitate aus der Primärliteratur im folgenden direkt im Text belegt.
[142] Moylan, 1990, S. 71
[143] vgl. Bartkowski, 1991, S. 54
[144] Bartkowski, 1991, S. 59
[145] Barnouw, 1985, S. 180
[146] vgl. Moylan, 1990, S. 73
[147] Piercy, 1989, S. 118/119
[148] vgl. Firestone, 1987, S. 82
[149] Firestone, 1987, S. 101
[150] Weitere Forderungen Firestones (1987), die in Piercys Mattapoisett verwirklicht sind, bestehen beispielsweise in der genetischen Unabhängigkeit der Kinder von ihren Eltern (S. 253 f); der Einrichtung von Schiedsgerichten innerhalb der Gemeinschaft (S. 254 f); einer Stadtplanung für gemeinschaftliche und individuelle Räume (S. 255 f) und der Organisation von Wirtschaft und Produktion durch sinnvollen Einsatz von Maschinen (S. 256 f).
[151] Moylan, 1990, S. 135
[152] Moylan, 1990, S. 135
[153] Moylan, 1990, S. 155
[154] Devine, 1988, S. 137
[155] Barnouw, 1985, S. 166
[156] Piercy, 1989, S. 114
[157] bibliographische Daten vgl. Bosky, 1991, S. 244
[158] Elgin, 1981, zitiert nach Bosky, 1991, S. 245
[159] Der Terminus Alien wird in dieser Arbeit benutzt, weil eine Übertragung ins Deutsche kaum sinnvoll möglich ist. Aliens sind Fremde, in der Science Fiction häufig, aber nicht immer, extraterrestrische Lebewesen. Ein Alien kann auch jemand sein, der, die oder das sich vom Wesen, vom Aussehen oder von der Kultur her stark vom Gewohnten unterscheidet.
[160] Patricia Ann Wilkins ist Suzette Haden Elgin; Wilkins ist Elgins Geburtsname, Patricia und Anne sind zwei weitere Vornamen.
Übersicht „Heldin in der Welt von morgen“
- Teil 01 – Einleitung (1992)
- Teil 02 – Voraussetzungen / Definitionen
- Teil 03 – feministische Literaturwissenschaft
- Teil 04 – Geschichte feministischer Utopien
- Teil 05 – Die Romane
- Teil 06 – Gesellschaft und Widerstand
- Teil 07 – Soziales und politisches Umfeld
- Teil 08 – Die neue Gesellschaft formen
- Teil 09 – Zukunftsplanung oder Vision
- Teil 10 – Literaturverzeichnis