8 Der Anteil der Protagonistin an der Entwicklung der neuen Gesellschaft
In diesem Kapitel sollen die Textanaylsen der vorangegangenen Kapitel noch einmal zusammengefaßt werden. Eine zentrale Frage, die vom Anfang dieser Arbeit an bestand, betrifft die Einschätzung der Relevanz feministischer Utopien in Hinblick auf die Entwicklung sozialer, insbesondere feministischer Theorie und Politik. Dabei soll, wie Moylan schreibt, die Utopie keine Gebrauchsanweisung sein:
„Die Aufgabe eines oppositionellen utopischen Textes besteht nicht darin, die Tagesordnung für die Zukunft im Sinne eines in sich schlüssigen revolutionären Plans auf den finalen Punkt zu bringen.“[199]
Auch Cranny-Francis weist darauf hin, daß es nicht darum geht, „blueprints for a feminist revolution“ zur Verfügung zu stellen, sondern vielmehr darum, mögliche Konsequenzen aus der Analyse der gegenwärtigen politischen Bedingungen zu ziehen[200]. Dabei entsteht ein Konflikt zwischen der, wie auch immer wahrgenommenen, wirklichen Welt und der utopischen Gesellschaft[201]: was in ersterer unmöglich erscheint, wird im literarischen Entwurf Ausgangspunkt einer revolutionären Entwicklung, von der Leserinnen und Leser nicht zu träumen gewagt hätten.
Alle untersuchten Romane basieren auf einer umfassenden Analyse der politischen Situation der Gegenwart ihrer Autorinnen. Dabei geht es nicht darum, eine „objektive“ Kritik zu üben, wie auch immer dies definiert sein mag, sondern die Autorinnen haben ihre Situation als Frauen hinterfragt, die sich erheblich von der Situation von Männern, aber durchaus auch von der anderer Frauen unterscheiden kann. Sie beziehen sich in vielen Punkten auf theoretische Untersuchungen und Ergebnisse sowohl der Frauenbewegung als auch anderer Gruppierungen, die gegen die bestehende Gesellschaft oder gegen einige ihrer Teilaspekte opponieren.
„I think it’s time SF writers – and their readers! – stopped daydreaming about a return to the age of Queen Victoria, and started thinking about the future.“[202]
8.1 Aktivität und Passivität: Alternativen bei Joanna Russ
Joanna Russ‘ The Female Man beschreibt die Gesellschaft der USA in den sechziger Jahren, wie sie beispielsweise in Friedans (1963 im amerikanischen Original erschienenen) Buch Der Weiblichkeitswahn dargestellt wird[203]. Friedan beschreibt den Niedergang der ersten Frauenbewegung, die mit dem Erreichen des Wahlrechts für Frauen 1920 endete. Die Anpassung der amerikanischen Frauen an althergebrachte Ideale erreichte laut Friedan Ende der fünfziger Jahre ihren Höhepunkt[204]. Nicht die Entwicklung eigener Interessen sollte das Lebensziel von Frauen sein, sondern diese sollten sich darauf konzentrieren, beliebt zu sein und sich anzupassen: „Was 51% der Bevölkerung heute tun, sollen morgen 100% tun.“[205] Dies sind die Strukturen, in denen Jeannine gefangen ist und die sie ständig in Konflikte stürzen. Jeannine weiß, daß sie das Recht hat zu studieren, sie weiß, daß sie unverheiratet bleiben kann, aber die Verwirklichung solcher Vorstellungen würde sie vom gängigen gesellschaftlichen Ideal isolieren. Joanna dagegen befindet sich im Aufbruch, denn, wie Friedan feststellt:
„Die Stärke der Frauen ist nicht die Ursache, sondern die Heilung dieser Krankheit.“[206]
Janets Gesellschaft stellt eine von sicherlich mehreren Möglichkeiten dar, Gleichberechtigung aller Menschen bei gleichzeitiger individueller Selbstverwirklichung zu erreichen. Es ist nur konsequent, daß in Whileaway keine Männer leben, denn in Joannas und Jeannines Wirklichkeiten kommen keine Männer vor, die sich als Bündnispartner auf dem Weg in eine bessere Gesellschaft anbieten würden, im Gegenteil: die dort erwähnten Männer sind nur zu zufrieden mit der Welt, in der sie leben, mit dem Monopol auf gute Arbeitsplätze, um die sie mit Frauen kaum konkurrieren müssen, und mit Frauen, deren einziges Lebensziel darin besteht, ihnen zu gefallen und ihnen gefällig zu sein.
Jaels Welt ist der Joannas nicht so fern, wie es zunächst den Anschein hat. Sie lebt in einem System, in dem die konsequente Fortführung der Politik, wie sie in den sechziger Jahren betrieben wurde, zur Katastrophe geführt hat. Zu dieser Analyse kommt auch Holland-Cunz fast zwanzig Jahre später:
„Wenn weiblicher Widerstand/feministische Gegengewalt nicht erfolgreich sind, wird patriarchale Gewalt das Leben auf dem Planeten vernichten.“[207]
Die Umwelt ist zerstört, Opposition ist unmöglich geworden, und die einzige Chance, die den Frauen bleibt, besteht darin, Krieg gegen die Männer zu führen. Dabei wird Jael und ihren Mitstreiterinnen die Möglichkeit genommen, in einem Prozeß der Umwandlung eigene Werte und Normen zu entwickeln, die sie der gegnerischen Partei entgegensetzen können; es geht nur noch um Macht und Sieg, und die gesellschaftlichen Strukturen des Gegners werden, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, übernommen.
Russ stellt hier vier Optionen für künftige Entwicklung einander gegenüber: das Verharren in den alten Strukturen der vierziger und fünfziger Jahre durch Jeannine; den alleinigen Aufbruch der Frauen, weil die Männer sich nicht mit den Frauen weiterentwickeln, übertragen durch Janet; die Konsequenz männlicher Politik in der nahen Zukunft durch Jael und den beginnenden feministischen Widerstand, der die Veränderung der US-amerikanischen Gesellschaft bewirken soll, durch Joanna. Joanna ist dabei, stellvertretend für jede beliebige amerikanische Frau Ende der sechziger Jahre, diejenige, der die Erkenntnisse, die sie aus der Anschauung bzw. der Vorstellung der anderen Welten gewonnen hat, nützen können. Am Ende von The Female Man kennt sie die Möglichkeiten, die ihr offenstehen, und kann entscheiden: wird sie abwarten, bis die Gesellschaft sich sozial in die vierziger Jahre zurückentwickelt hat, und Jeannine werden, wird sie abwarten und riskieren, in einer Struktur zu enden, die der Jaels ähnelt, oder wird sie auf der anderen Seite aktiv werden, um, wenn die Männer in ihrer sozialen Entwicklung hinter den Frauen zurückbleiben, eine Gesellschaft zu entwickeln, die nur aus Frauen besteht wie Janets Whileaway; oder wird sie aktiv werden, in der Hoffnung, daß es gelingt, eine bessere Gesellschaft für alle Menschen zu schaffen?
Die literarische Utopie bietet die Möglichkeit, diese Optionen auf die Zukunft risikolos auszuprobieren:
„The feminist utopian novel is a place where theories of power can be addressed through the construction of narratives that test and stretch the boundaries of power in its operational details.“[208]
Russ stellt vier Möglichkeiten gesellschaftlicher Entwicklung dar, die auf nur einer Alternative beruhen, die Frauen heute entscheiden müssen: Aktivität oder Passivität. Beide bergen Risiken in sich, doch in The Female Man ist eine Botschaft offensichtlich: passives Verhalten wird, auf jeden Fall für die Frauen, zum Schlechteren führen. Aktivität, wie auch immer diese im einzelnen aussieht, wird Frauen die Chance geben, ihre Umwelt zu bestimmen oder zumindest mitzubestimmen.
8.2 Opposition ist immer möglich: Marge Piercy und Suzette Haden Elgin
Ebenso wie Russ‘ The Female Man bezieht sich auch Marge Piercys Woman on the Edge of Time in vielen Punkten auf Analysen und Forderungen der US-amerikanischen Frauenbewegung[209]. Während The Female Man zu einer Zeit geschrieben wurde, in der erst vorsichtige Ansätze einer neuen Initiative seitens der Frauen bestanden, entstand Woman on the Edge of Time auf dem Höhepunkt der Frauenbewegung, wie im nachhinein festgestellt werden kann. Firestone unterscheidet in den siebziger Jahren drei unterschiedliche Ansätze: zunächst ist der konservative Feminismus zu nennen, dessen Forderungen denen der ersten Frauenbewegung analog sind. Diese Richtung wird beispielsweise repräsentiert durch NOW (National Organization of Women)[210]. Als nächstes nennt Firestone die politische Frauenbewegung, die eingeteilt ist in die weiblichen Hilfstruppen der Linken, die Liberalen und die „politischen Feministinnen“, die den Mittelweg verkörpern[211]. Die dritte Gruppe sind die Vertreterinnen des radikalen Feminismus. Hier sind der politische und der private Bereich verbunden, und das psychologische Grundmuster von Macht und Unterwerfung ist aufgehoben[212]. Piercys Zugehörigkeit zur dritten Gruppe der Frauenbewegung wird beispielsweise durch ihren im Original 1969 erschienenen Aufsatz Die große kalte Wut deutlich[213]. Eine Kernthese der amerikanischen Frauenbewegung Mitte der siebziger Jahre bestand darin, daß die Reproduktionsfähigkeit der Frauen und damit der Reproduktionszwang zum Zweck der Erhaltung der Gesellschaft einen zentralen Mechanismus zur Unterdrückung von Frauen darstellt[214], wie Firestone pointiert formuliert: „Schwangerschaft ist die zeitweilige Deformation des menschlichen Körpers für die Arterhaltung.“[215] Neben scharfer Kritik an der durch die Wirtschaft der Männer hervorgerufene Zerstörung der natürlichen Umwelt wurde die Verselbständigung der Wissenschaft in Frage gestellt, wie sie beispielsweise durch die Entwicklung der Atombombe offensichtlich geworden war[216].
Piercy bezieht sich in Woman on the Edge of Time außerdem auf die in den siebziger Jahren neue Anti-Psychiatrie-Bewegung in den USA. Sauter-Bailliet nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf den Psychiater Breggin, der bereits 1972 vor chirurgischen Pazifizierungsmaßnahmen gewarnt hatte, die auch gegen politische Gruppierungen eingesetzt werden könnten[217]. Breggin zeigt ebenfalls auf, daß:
„die Mehrzahl der Patienten/innen aus den finanziell schwachen, ungebildeten, unterbeschäftigten, rassendiskriminierten Schichten stammen. Was Breggin nicht erwähnt ist, daß mehr Frauen als Männer in Anstalten enden, aus denen schwieriger herauszukommen ist als aus einem Gefängnis.“[218]
Von diesen politischen Hintergründen aus betrachtet, ist offensichtlich, weshalb Piercy gerade Connie als Protagonistin gewählt hat:
„Piercy chose Connie to narrate her own story because her life is one in which many of the social practices criticized by contemporary feminism are brought to light.“[219]
Connie ist in Woman on the Edge of Time die Person, die den Leserinnen und Lesern einen Einblick in eine bessere Welt ermöglicht. Connies Situation in New York City könnte kaum verzweifelter sein, als es zu Beginn des Romans geschildert wird: sie ist in fast jeder Hinsicht diskriminiert und hat kaum Chancen, auch nur einen Job als Hilfsarbeiterin oder Putzfrau zu finden. Trotzdem – oder gerade deswegen – wird ihr von der Autorin des Romans noch eine weitere, alles bisherige übertreffende Belastung auferlegt, als sie in die Psychiatrie eingewiesen wird. Im Gegensatz zu allen realistischen Erwartungen beginnt Connies Entwicklung zu einer eigenständigen, souveränen Persönlichkeit jedoch gerade hier, wenn auch nicht im Sinne der Ärzte. Der Prozeß ist unkonventionell: durch Kontakt zur Zukunftswelt Lucientes im Dorf Mattapoisett entwickelt Connie die Kraft, in der Psychiatrie zu überleben. Ihre Aktivitäten gehen jedoch weit über das reine Überleben hinaus: sie baut in der Psychiatrie tragfähige persönliche Beziehungen auf, die sie in dieser Art zuvor nicht hatte. Die Solidarität mit denjenigen, denen es ebenso schlecht geht wie ihr, ist ständig präsent.
Während des gesamten Zeitraums ihres Psychiatrieaufenthaltes hat Connie Kontakt mit Luciente in Mattapoisett. Dies ist, zumindest für Connies individuelle Wahrnehmung, und eine andere lernt die interessierte Leserin nicht kennen, ein durchaus realer Kontakt: Connie besucht Mattapoisett, teilweise über mehrere Tage hinweg, und bezieht hier die Kraft, die sie benötigt, um in der Psychiatrie kämpfen zu können. Piercy konstruiert mit Mattapoisett eine Gesellschaft, die fast alles hat, was Connie fehlt; Mattapoisett verfügt über funktionierende Kommunikationsstrukturen, sämtliche hierarchischen Strukturen sind abgeschafft, die Medizin steht im Dienst der Menschen und wird mit ihnen, nicht gegen sie, praktiziert. Die Familienverbände, die Connie für sich ersehnt, die aber in der Ausgangsgesellschaft offensichtlich nicht funktionieren, sind durch freiwillige Bande ersetzt, jeder Mensch arbeitet gemäß seinen oder ihren Fähigkeiten, die Berufsausbildung orientiert sich an individuellen und nicht an – vermeintlich unabdingbaren – gesellschaftlichen Interessen. Connie weiß, daß Mattapoisett für sie als Individuum nie Wirklichkeit werden kann. Ihre Motivation, für die Existenz der Utopie zu kämpfen, muß sich zwangsläufig daherleiten, daß sie eine bessere Welt für andere erreichen will. Dabei hat Connie kaum Möglichkeiten; sie ist in der Psychiatrie nicht berechtigt, das, was früher ihre Identität ausgemacht hat, beizubehalten.
Connies Strategie zur Verbesserung der Lebensbedingungen in ihrer Gesellschaft beruht auf zwei unterschiedlichen Ansätzen. Zunächst ist sie bemüht, die sozialen Bedingungen innerhalb der Psychiatrie zu verbessern. Sie hält Kontakt zu ihren Mitpatientinnen, bemüht sich, diese in das Leben auf der Station einzubeziehen, fördert, ermutigt und unterstützt sie. Auf der anderen Seite ist sie kämpfendes Individuum: sie versucht, aus der Psychiatrie in eine fast genauso erniedrigende Welt „draußen“ zu flüchten. Als dies mißlingt, entwickelt sie den Plan, ihre Ärzte zu vernichten. Auch wenn Connie nicht davon ausgehen kann, daß die Ausführung ihres Vorhabens quasi zwangsläufig Mattapoisett oder eine entsprechende utopische Gesellschaft zur Folge haben wird, ist sie doch sicher, daß ihre Ärzte und deren menschenunwürdige Behandlungsmethoden in einer besseren Gesellschaft, wie auch immer diese aussehen mag, fehl am Platze wären. Als Connie die Ärzte vergiftet, hat sie nichts mehr zu verlieren, ihre Alternative bestände darin, sich ein Kontrollgerät ins Gehirn operieren zu lassen und in Zukunft als Zombie die Gesellschaft, gegen die sie eigentlich kämpfen will, auf der Seite der Pseudo-„Normalen“ aufrechtzuerhalten.
Vor daher ist Connies Schritt, ihr Attentat auszuführen, keineswegs die extreme Entscheidung eines Augenblicks. Sie hat immer mit den ihr möglich erscheinenden Mitteln gearbeitet. In ihrer alten Umgebung in New York City bestand ein Großteil ihrer Aktivität in dem Bemühen, mit der knappen Sozialhilfe zurechtzukommen und sich einen Rest dessen zu bewahren, was für sie Normalität darstellte. Sie versuchte, die Familie zusammenzuhalten, indem sie Briefe schrieb und, wenn möglich, Geschenke für die Nichten und Neffen schickte; sie hielt die Beziehung zu ihrer Nichte Dolly auch unter schwierigsten Bedingungen aufrecht.
In der Psychiatrie sind ihre Bemühungen zunächst darauf gerichtet, wieder herauszukommen. Als ihr Wohlverhalten offensichtlich nichts nützt, beginnt sie mit der Stabilisierung ihrer dortigen Beziehungen. Sie kann auch ihren Bruder Louis für ein paar Tage besuchen, jedoch zerschlägt sich ihre Hoffnung, dies sei der Beginn ihrer Wiedereingliederung in die alte Umgebung, schnell: einerseits muß sie erkennen, daß sie von ihrer Familie keinerlei Unterstützung zu erwarten hat, andererseits beginnt sie, mit einem durch ihre Erfahrungen in Mattapoisett geschärften Blick, zu begreifen, daß selbst das Leben einer vermeintlich privilegierten Frau, wie der Ehefrau ihres Bruders, sich im Endeffekt kaum von ihrem derzeitigen unterscheidet. Die Flucht aus der Psychiatrie ist ohne adäquate Kleidung, ohne Geld und ohne Zufluchtsort ebenfalls zwecklos. Als auch noch ihr neugewonnener Freund Skip nach einer Gehirnoperation Selbstmord begeht, wird spätestens klar, daß nicht einmal ein Leben als ferngesteuerter Zombie irgendetwas für sie bereithält.
Von daher ist Connies Attentat keine extreme Tat. Sie hat schlichtweg die einzige Chance genutzt, die ihr blieb, nachdem alle, aber auch wirklich alle anderen Mittel versagt haben. Sie hat ihre letzte Chance, sich zu widersetzen, wahrgenommen.
Im Gegensatz zu Connie stehen Nazareth Chornyak in Elgins Native Tongue von Anfang an Mitstreiterinnen zur Seite. Das Bewußtsein gesellschaftlicher Diskriminierung als Angehörige der Linien und sexistischer Diskriminierung als Frauen ist bei den Frauen der Linien bereits entwikkelt, als Nazareth geboren wird: zu dieser Zeit bestehen die Barren Houses schon lange genug, um eine Tradition und eine Kontinuität in den Sozialbeziehungen entwickelt haben zu können.
Das abstrakte Wissen um die bestehende Solidarität der Frauen mag für Nazareth zwar beruhigend sein; im alltäglichen Leben ist sie dennoch isoliert und den Männern ausgeliefert. Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt ist, Kinder zu gebären, sitzt sie in einer engen Kabine und übersetzt die Verhandlungen der Regierung mit humanoiden Aliens. Nazareth tut, ebenso wie Connie, das, was sie tun kann, das einzige, für das sie qualifiziert ist, für das sie die Zeit erübrigen kann und das eine Chance hat, gegen die Allmacht der Männer zu bestehen: sie entwirft Grundlagen, auf denen später die Frauensprache Láadan basieren wird.
Wenn Nazareths Initiative auch nicht so militant wirkt wie Connies, unterscheiden sie sich in ihrer Radikalität kaum. Im Gegensatz zu Connie kann Nazareth einen Erfolg ihrer Bemühungen erkennen; durch die Gemeinschaft der Frauen im Barren House motiviert, kann sie eigene Handlungsorientierungen für ungewisse Situationen entwerfen. Nazareth ist in der Lage, ihr Ehemartyrium durchzustehen, weil sie weiß, daß sie hinterher eine Gesellschaft erwartet, die zwar von einer utopischen weit entfernt ist, die aber trotzdem eine erhebliche Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, zumindest in der knapp bemessenen Freizeit, bedeuten wird. Dabei ist ihr jedoch bewußt, daß, wenn sie nicht aktiv wird, auch die nächsten Frauengenerationen der Tortur, die sie selbst erlebt hat, aussetzt sein werden.
Nazareth hat die Chance, die Folgen ihrer Aktivitäten über lange Zeit hinweg sehen zu können: die Verbreitung des Láadan innerhalb der Linien, die verbesserten Beziehungen der kleinen Mädchen untereinander, die Errichtung der Frauenhäuser, die Unterwanderung der Nonnenklöster und schließlich die Verbreitung des Láadan in der gesamten Galaxis. Dabei unterscheidet sie sich jedoch insofern nicht von Connie, als sie nicht erwarten konnte, ihren Erfolg sehen zu können.
Sowohl Piercy als auch Elgin zeigen in ihren Romanen, daß keine Situation völlig ausweglos ist. Auch eine Person, die, nach ihren Lebensbedingungen beurteilt, bestenfalls bemitleidenswert ist, ist in der Lage, revolutionäre Energie zu entwickeln. Dabei kann Nazareth bei der Entwicklung ihres revolutionären Potentials auf eine hohe berufliche Qualifizierung zurückgreifen, Connie ist dagegen darauf angewiesen, situativ und ohne jegliche Mittel zu handeln. Die beiden Frauen zeigen, aus wie unterschiedlichen Voraussetzungen heraus gehandelt werden kann. Dies stellt auch Pearson fest:
„Wir können Veränderungen weder kontrollieren noch herbeizwingen, aber wir können den Sprung wagen, Bürgerinnen einer utopischen Gesellschaft im Wandel zu sein – heute schon. Das Paradox liegt darin, daß wir bei diesem einsamen Schritt in eine neue Welt zu unserer Überraschung (…) in einer neuen Gemeinschaft aufwachen, die bereits die ganze Zeit mit der alten in Ko-existenz bestand. Nur unser Mißtrauen hat uns die Sicht versperrt.“[220]
Den Autorinnen der untersuchten Werke ist es gelungen, wesentliche Forderungen der Frauenbewegung in ihre utopischen Texte zu integrieren. Ob dies nun der Ansatz Elgins ist, feministische Sprachforschung aufzugreifen, ob Piercy die Diskriminierung (vermeintlicher) Minderheiten kritisiert oder ob Russ gesellschaftlich verordneter Zwangsheterosexualität eine Alternative entgegensetzt – es handelt sich bei allen drei Autorinnen um eine Auseinandersetzung mit für die Zukunft der Gesellschaft relevanten Fragen. An dieser Stelle soll noch einmal auf Piercy zurückgekommen werden, die feststellt:
„As long as you do something to move it forward it doesn’t really matter which issues you pick out (…).“[221]
>> weiter zu Teil 9 – Möglichkeiten der Utopie: Zukunftsplanung oder Vision
[199] Moylan, 1990, S. 34
[200] Cranny-Francis, 1990, S. 140
[201] vgl. Moylan, 1990, S. 17
[202] LeGuin, American SF …, 1989, S. 85
[203] Friedan, 19703
[204] vgl. Friedan, 19703, S. 33
[205] Friedan, 19703, S. 112, vgl. S. 185
[206] Friedan, 19703, S. 195
[207] Holland-Cunz, 1988, S. 233
[208] Bartkowski, 1991, S. 5
[209] vgl. Kapitel 5.2
[210] vgl. Firestone, 1987, S. 39 f
[211] vgl. Firestone, 1987, S. 40 ff
[212] vgl. Firestone, 1987, S. 45 ff
[213] vgl. Piercy, 1972, S. 25 ff. Der Titel des Originals, das im Oktober 1969 in Leviathan erschien, lautet The Grand Coolie Damn.
[214] vgl. Firestone, 1987, S. 225
[215] Firestone, 1987, S. 219
[216] vgl. Firestone, 1987, S. 200 ff/213
[217] vgl. Sauter-Bailliet, 1984, S. 351
[218] Sauter-Bailliet, 1984, S. 353
[219] Bartkowski, 1991, S. 53
[220] Pearson, 1986, S. 212/213
[221] Piercy, 1989, S. 121
Übersicht „Heldin in der Welt von morgen“
- Teil 01 – Einleitung (1992)
- Teil 02 – Voraussetzungen / Definitionen
- Teil 03 – feministische Literaturwissenschaft
- Teil 04 – Geschichte feministischer Utopien
- Teil 05 – Die Romane
- Teil 06 – Gesellschaft und Widerstand
- Teil 07 – Soziales und politisches Umfeld
- Teil 08 – Die neue Gesellschaft formen
- Teil 09 – Zukunftsplanung oder Vision
- Teil 10 – Literaturverzeichnis